„Sturm und Drang“: Gil Mehmert im Gespräch über „Goethe! Auf Liebe und Tod“

Ab 4. April 2017 zeigt die Folkwang Universität der Künste in Zusammenarbeit mit Stage Entertainment und Senator Film/Warner Bros. die Tryout Premiere des neuen Musicals „Goethe! Auf Liebe und Tod“ nach dem Film „Goethe!“ (2010) von Regisseur Philipp Stölzl. Darin wird die „Sturm-und-Drang“-Phase des jungen Johann Wolfgang Goethe thematisiert. Buchautor des Musicals ist Gil Mehmert, der schon den Film „Das Wunder von Bern“ (2003) von Sönke Wortmann als Musical für die Bühne adaptiert hat und auch Regie führen wird. Erneut zeichnen Martin Lingnau und Frank Ramond für Musik und Liedtexte verantwortlich.

In der deutschsprachigen Musicallandschaft ist die schreib.maschine eine der wichtigsten Institutionen mit dem Ziel, Autoren und Komponisten sowie die Entwicklung neuer Stoffe zu fördern. Die Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Deutschen Musical Akademie dürfte allen Fachleuten ein Begriff sein, der „normale“ Theaterbesucher wird womöglich nie davon gehört haben. Können Sie für die letztgenannte Gruppe die Entstehung eines neuen Musicals kurz umreißen?

Gil Mehmert: Zur Produktion eines neuen Musicals gehört eben auch das Ausprobieren. Ein reines Schauspiel kann man anhand des Leseprozesses eigentlich ganz gut erfassen und beurteilen. Ebenso eine Oper, in der man durch die musikalische Struktur das Werk im Vorfeld einschätzen kann. Beim Musical sind es aber mehrere Erzählebenen und insbesondere die Choreographie ist dabei ein wesentliches Element, sodass man im Entstehungsprozess versucht, anhand von Workshop-Produktionen einen Eindruck zu bekommen, an welchen Bestandteile man noch weiterarbeiten muss.

Neue Musicalstoffe zu finden, die ein breites Publikum interessieren, scheint in der heutigen Zeit ungeheuer schwierig geworden zu sein. In letzter Zeit drängen immer mehr Jukebox-Musicals auf den Markt. Was macht für Sie ein Thema wie „Sturm und Drang“ interessant für die Musicalbühne?

Gil Mehmert: Der kommerzielle Ansatz ist ja einleuchtend: die Story ist hinreichend bekannt, meist durch einen Film oder eine Buchvorlage, oder die Musik ist Allgemeingut, dann wird diese eben zu einer Geschichte zusammen montiert. Bei GOETHE nun ging es darum, eine bzw. die bekannteste Persönlichkeit unseres Landes in den Mittelpunkt eines Musicals zu stellen. Und interessant oder wie man neudeutsch sagen würde „sexy“ wird GOETHE, wenn man den jungen Dichter an der Schwelle zum Durchbruch betrachtet. Aber auch hier greifen wir ja auf ein Drehbuch zurück, in dem im Stile von „Shakespeare in Love“ oder auch „Amadeus“ geschickt Biographisches mit romantischer Fiktion verknüpft wird. Dieser Film gefiel uns ausgesprochen gut, und jetzt wo wir das Werk im Rahmen der Folkwang Universität präsentieren, passt es ja gut, dass wir im Umfeld vieler junger Künstler sind, die auch auf der Suche nach ihrem Ausdruck, ihrer Sprache sind, die sich wahrscheinlich gegenüber der Eltern- und Lehrer-Generation behaupten und durchsetzen müssen.

Im Sommer 2015 haben die Wetzlarer Festspiele die Uraufführung „Lotte – Ein Wetzlarer Musical“ im Lottehof gezeigt, wenn man so will, einen historischen Stoff mit Lokalbezug. Auf dieser Schiene ist auch die spotlight musicals GmbH seit einigen Jahren erfolgreich unterwegs, wobei sich dort bei „FRIEDRICH – Mythos und Tragödie“ gezeigt hat, dass längst nicht jeder historische Stoff mit Lokalbezug zwangsläufig zum Musicalhit prädestiniert ist. Wie entwickelt man ein Gespür dafür, welche Themen Theaterbesucher als Musical ansprechen könnten? Benötigt man dafür die sprichwörtliche Glaskugel, oder gibt es sichere Indizien für geeignete Themen?

Gil Mehmert: Das sicherste Produkt ist natürlich ein Disney-Animations-Film. Der erfasst mehrere Generationen und wird schon als Kino-Erzählung so angelegt, dass er im nächsten Schritt als Musical ausgewertet werden kann. Alles andere ist schwieriger. Nicht jede Juke-Box-Show funktioniert kommerziell erfolgreich und auch nicht jede Blockbuster-Adaption. Es ist sicher ein Dreiklang aus Gespür, Marketing und der Umsetzung. Wobei eine Ensuite-Produktion natürlich ganz andere Zuschauerzahlen als ein Stadttheater-Umfeld anstrebt.

Wie kam es dazu, den Film „Goethe!“ in Zusammenarbeit mit Stage Entertainment und Senator Film/Warner Bros. als Musical für die Bühne zu adaptieren? Der Finanzinvestor CVC bei Stage Entertainment wird sich doch ganz sicher nicht mit einer edlen Spende daran beteiligt haben, die kurzfristig keinen Profit verspricht. Schätzungsweise dürfte die Idee für die Bühnenadaption schon vor dem Einstieg von CVC bei Stage Entertainment geboren sein.

Gil Mehmert: Im Zuge der fruchtbaren Zusammenarbeit mit Joop van den Ende am „Wunder von Bern“ hat er selbst dieses Projekt noch angestoßen. Da er sich aber von den Entscheidungsprozessen zuletzt weitgehend zurückgezogen hat, wurden natürlich von den neuen Mehrheitseignern andere Prioritäten gesetzt, und dazu gehörte zunächst nicht die Entwicklung neuer Stoffe auf nationaler Ebene, was eben genau Joops Ansatz war, mit dem „Wunder von Bern“ ein Ereignis oder mit „GOETHE“ eine Person von nationaler Relevanz als Musical zu erzählen.

Was verbindet Sie mit Martin Lingnau (Musik), Frank Ramond (Liedtexte) und Simon Eichenberger (Choreografie) nach der erfolgreichen Zusammenarbeit bei „Das Wunder von Bern“?

Gil Mehmert: Bei der gemeinsamen Arbeit am „Wunder von Bern“ durften wir zu Freunden werden, die sich als Menschen und Künstler außerordentlich schätzen und inspirieren. Das ist ja das Schönste an unserem Beruf, anderen zu begegnen, die die eigene Sicht auf das Wirken und Sein wesentlich bereichern.

Könnte man den Einstieg von CVC bei Stage Entertainment womöglich als Glücksfall für die Folkwängler bezeichnen? „High Fidelity – Das Musical“ und „Ein Mann geht durch die Wand“ waren Deutsche Erstaufführungen, aber „Goethe! Auf Liebe und Tod“ ist meines Wissens die erste Uraufführung als Folkwang Musical.

Gil Mehmert: Das kann man auch so sehen. Unser Stück lief plötzlich in der Warteschleife und um es da heraus zu holen, verwirklichen wir es nun im Rahmen von Folkwang. Darüber freut sich auch Stage Entertainment, die ohnehin bemüht sind, neue Kooperationswege zu finden, in denen man Stoffe ausprobieren kann.

Apropos Folkwang Musical: Sie haben unlängst erklärt, dass es häufig der Quadratur des Kreises gleiche, ein passendes Projekt für einen Abschlussjahrgang zu finden. Nun wurde „Goethe! Auf Liebe und Tod“ nicht als Projekt für den Abschlussjahrgang 2018 geschrieben, zumal die Filmvorlage von Männerrollen dominiert ist und sich im Abschlussjahrgang 2018 drei Studentinnen und lediglich ein Student befinden. Das scheint auf den ersten Blick vorn und hinten nicht zusammenzupassen. Wie lösen Sie in diesem Fall die Quadratur des Kreises, ohne dass die Studentinnen das Nachsehen haben? Nimmt man den dritten Jahrgang hinzu, so wären ja sechs Studentinnen mit Rollen zu „versorgen“.

Gil Mehmert: Eigentlich haben wir für alle 4 Darsteller/innen schöne Aufgaben gefunden. Sie agieren als KESTNER, ROTSCHOPF und Lottes Schwester ANNE. Die schwere Rolle der LOTTE teilt sich eine der Studenten mit unserem großartigen Gast Sabrina Weckerlin, sowie wir auch mit dem Alumni Merlin Fargel und dem wunderbaren Philipp Büttner den Titelheld doppelbesetzt haben.

Als Tryout-Vorstellungen wurden in der „klassischen“ Zeit der Broadway-Shows öffentliche Vorstellungen außerhalb New Yorks bezeichnet, um aufgrund der Publikumsreaktionen Änderungen und Verbesserungen vorzunehmen, bevor die Produktion in das Theater am Broadway umzog, in dem die Premiere vorgesehen war. Bezogen auf „Goethe! Auf Liebe und Tod“, an welchem Theater würden Sie das Stück gern zur Premiere bringen? Sehen Sie das Stück eher als Großproduktion oder eher im Stadt- und Staatstheater? Stage Entertainment zeigt in Deutschland ja lediglich Großproduktionen, die womöglich Häuser mit mehr als 1.000 Plätzen in acht Vorstellungen jede Woche füllen sollen.

Gil Mehmert: Soweit möchte ich gar nicht denken. Wie und wo auch immer, wir würden uns natürlich freuen, wenn dieses Musical einen nächsten Schritt gehen kann.

Im Film „Goethe!“ vermischt Regisseur Philipp Stölzl Fakten über die reale Person Goethes mit der Romanfigur des jungen Werthers und reiner Fiktion. Beispielsweise hat das Filmduell zwischen Johann Wolfgang Goethe und dem kurhannoverschen Legationssekretär Johann Christian Kestner (der mit Charlotte Buff verlobt war und im Film den Namen „Albert“ trägt) in Wirklichkeit nicht stattgefunden, und Goethes Liebe zu Charlotte Buff blieb rein platonisch. Legen Sie bei Ihrer Adaption stärkeres Gewicht auf Faktentreue, oder nutzen Sie ebenfalls die Freiheiten, die sich bereits der Film genommen hat?

Gil Mehmert: Bei einer solchen Umsetzung geht es im Zweifel ja nicht um wahr oder nicht, sondern um eine bühnenwirksame Zuspitzung der Grund-Konstellation. Der Zuschauer soll ja in die Handlung eintauchen und sie nicht mit dem Lexikon zensieren. Und mit Sicherheit gibt es Dinge, die wir von Goethe nicht wissen, da kann man auch welche weiter- bzw. dazu spinnen, die vielleicht passiert sein könnten. Tatsächlich orientieren wir uns an dem Drehbuch und haben versucht, dafür eine musikalische Umsetzung zu finden.

Im Film wurden neben der Musik von Ingo Frenzel auch Werke von Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert verwendet. In welchem Bereich wird sich „Goethe! Auf Liebe und Tod“ musikalisch bewegen?

Gil Mehmert: Nach dem „Wunder von Bern“, wo wir bewusst „erdige“ Songs konzipiert haben, die zum Teil bewusst an Schauspieler-Gesangsstimmen orientiert waren, geht es hier um Stimmgewalt. Die Songs sollen dazu beitragen, den Titelhelden und seine Gefühle modern und heutig zu erfassen. Goethe war ja eine Art erster Popstar.

Als Gäste für die Tryout Premiere von „Goethe! Auf Liebe und Tod“ sind Sabrina Weckerlin und Philipp Büttner angekündigt. In einer Uraufführung eine Rolle kreieren zu können wird doch sicher für viele Musicaldarsteller von besonderem Interesse sein. Waren die beiden bereits in einem Reading involviert, oder wie sind sie zu der Produktion gestoßen? Handelt es sich womöglich um eine PR-Maßnahme? Ein kommerzieller Veranstalter müsste ja auch solche Dinge bedenken, und sowohl Sabrina Weckerlin (Kala in Disneys Musical „Tarzan“) als auch Philipp Büttner (alternierender Aladdin in „Disneys Aladdin – Das Musical“) stehen augenblicklich bei Stage Entertainment unter Vertrag.

Gil Mehmert: Beide Darsteller werden auch von Stage Entertainment hoch geschätzt und gerne eingesetzt, dass sie aber gerade jetzt in aktuellen Produktionen engagiert sind, ist eher zufällig. Tatsächlich haben beide aber bereits am Entstehungsprozess mitgewirkt und so war es toll, dass es geklappt hat, Sabrina und Philipp einzubinden. Für mich ist vor allem ihre Qualität wichtig und dass beide Lust haben, mit unseren Studenten gemeinsam an diesem Stück weiter zu arbeiten. Wenn wir dadurch Zuschauer gewinnen, freut uns das natürlich auch. Wir haben aber mit Tom Zahner, Daniel Berger und Mark Weigel drei weitere tolle Gäste. Alle drei kommen vom Schauspiel und gehören zu meiner Theaterfamilie, arbeiten also oft in meinen Inszenierungen. Als Darsteller der Väter-Generation und Autoritäten sind sie außerordentlich wichtig für das Projekt.

Wie hat man sich den kreativen Prozess bei der Rollenentwicklung zu einer Uraufführung vorzustellen? Räumen Sie den Darstellerinnen und Darstellern dabei als Regisseur größere Freiheiten ein als beispielsweise bei einer „West Side Story“?

Gil Mehmert: In diesem Fall ist noch interessanter für die Zusammenarbeit, dass ich auch für das Buch zuständig bin (bekannterweise bei der West Side Story ja leider nicht…), insofern stelle ich auch manche Szenen oder Lösungen zur Diskussion und probiere gemeinsam mit den Darstellern verschiedene Versionen fraglicher Stellen aus. Letztlich bringt sich jeder durch seine Mitwirkung in mehr oder weniger großem Umfang ein, auch wenn er nicht konkret Vorschläge macht, inspirieren alle Beteiligten den Entstehungsprojekt auf ihre Weise.

Schon jetzt viel Erfolg für die Probenarbeit und toi, toi, toi für die Tryout Premiere am 4. April.

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