„Hairspray“ auf Tournee im deutschsprachigen Raum

„Hairspray“ – nach dem gleichnamigen Film von John Waters aus dem Jahr 1988; Musik: Marc Shaiman; Liedtexte: Scott Wittman und Marc Shaiman; Buch: Mark O´Donnell und Thomas Meehan; Deutsche Bearbeitung: Jörn Ingwersen (Dialoge), Heiko Wohlgemuth (Songs); Inszenierung: Katja Wolff; Choreografie: Christopher Tölle; Bühne: Jan Freese; Kostüme: Heike Meixner; Lichtdesign: Rolf Spahn; Musikalische Leitung: Heiko Lippmann. Darsteller: Beatrice Reece (Tracy Turnblad), Andrea Matthias Pagani (Edna Turnblad, Tracys Mutter), Claudius Freyer (Wilbur Turnblad, Tracys Vater), Devi-Ananda Dahm (Penny Pingleton, Tracys beste Freundin), Janko Danailow (Corny Collins, Gastgeber der Corny-Collins-Show), Krisha Dalke (Link Larkin, jugendlicher Herzensbrecher), Maja Sikora (Amber von Tussle), Nicole Rößler (Velma von Tussle, Ambers Mutter), Monica Lewis-Schmidt Amanda Whitford (Motormouth Maybelle, Gastgeberin des „Negro Days“ in der Corny-Collins-Show), Riccardo Haerri (Seaweed J. Stubbs, Motormouth Maybelles Sohn), Chiara Fuhrmann (Little Inez, Seaweeds jüngere Schwester), Frank Brunet (Mr. Pinky/Mr. Harriman F. Spritzer/Schuldirektor), Angela Hunkeler (Prudy Pingleton, Pennys Mutter/Sportlehrerin/Gefängnisaufseherin), Chiara Fuhrmann, Rebecca Stahlhut und Jahlisa Nikitser (The Dynamites), Mickey Junior Ayer, Sarah Kornfeld, David Mendez, Silvana Schollmeyer, Lukas Schwedeck, Lysanne van der Sijs, Nigel Watson (Dance Captain), Thomas Zigon. Uraufführung: 15. August 2002, Neil Simon Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 15. April 2008, Theater St. Gallen, Schweiz. Deutsche Erstaufführung: 6. Dezember 2009, Musical Dome, Köln. Premiere der Tourneeproduktion der Konzertdirektion Landgraf: 22. November 2017, Theater am Ring, Villingen-Schwenningen. Besuchte Vorstellung: 19. Dezember 2017, Ruhrfestspielhaus, Recklinghausen.



„Hairspray“


Willkommen in den Sixties


Am 26. Februar 1988 kam die Filmkomödie „Hairspray“ in die amerikanischen Kinos, John Waters schrieb das Drehbuch und führte auch Regie. Devine (* 19. Oktober 1945 in Towson, Maryland, † 7. März 1988 in Los Angeles, Kalifornien, mit bürgerlichem Namen Harris Glenn Milstead) spielte die Rolle der Edna Turnblad. Kurze Zeit nach der Premiere verstarb Devine an Herzversagen, er wog zum Zeitpunkt seines Todes 170 kg. Die amerikanische Talkshowmoderatorin und Schauspielerin Ricki Lake gab in der Rolle der Tracy Turnblad ihr Filmdebüt. Die beiden Autoren Marc O´Donnell und Thomas Meehan haben die Filmhandlung ein wenig aufgemöbelt und kleine Anspielungen auf Teenager Musicals wie „Grease“ hinzugefügt. Komponist Marc Shaiman und Texter Scott Wittman haben die Songs zu dem Musical beigesteuert, das am 15. August 2002 am Neil Simon Theatre seine Premiere am Broadway feierte. Das Musical war 2003 für 13 Tony Awards nominiert, wovon es 8 Auszeichnungen auch tatsächlich erhalten hat, u. a. als Bestes Musical, für das beste Musicallibretto und die beste Originalmusik. Adam Shankman hat das Musical mit John Travolta als Edna Turnblad, Michelle Pfeiffer als Velma von Tussle, Queen Latifah als Motormouth Maybelle und Zac Efron als Link Larkin verfilmt, der Film kam am 20. Juli 2007 landesweit in die amerikanischen Kinos. Die Musicalverfilmung von Adam Shankman spielte 202 Millionen US-Dollar ein.

Baltimore, MD im Jahr 1962: Die pummelige Tracy Turnblad träumt davon, in der „Corny Collins Show“ mitzutanzen, in der Jugendliche neue Tänze wie den Twist, Mashed Potato und Madison vortanzen. (Die „Corny Collins Show“ ist von der real existierenden „Buddy Deane Show“ bei dem Fernsehsender WJZ-TV in Baltimore inspiriert, die 1957 bis 1964 von Winston J. „Buddy“ Deane (* 2. August 1924 in St. Charles, Arkansas, † 16. Juli 2003 in Pine Bluff, Arkansas) moderiert wurde.) Natürlich sind dort nur die vermeintlich attraktivsten, weißen Teenager der Stadt vertreten, und als Tracy Turnblad mit ihrer besten Freundin Penny Pingleton zum Vortanzen für die „Corny Collins Show“ geht, wird sie natürlich von der Produzentin der Show, Velma von Tussle, abgewiesen, die ihre eigene Tochter Amber protegiert. In der Schule lernt Tracy beim Nachsitzen von Seaweed J. Stubbs neue Tanzschritte, und so gelingt es ihr schließlich doch, auf sich aufmerksam zu machen und in der „Corny Collins Show“ als Tänzerin im Ensemble aufgenommen zu werden, zum Entsetzen von Velma von Tussle und dem Hauptsponsor, Mr. Spritzer von „Ultra Clutch Hairspray“. Dennoch steigt Tracy rasch zum Star der Show auf, und wird zum Aushängeschild von „Mr. Pinky´s Hefty Hideaway“. Bei einer Party im Schallplatten-Geschäft von Seaweeds Mutter, Motormouth Maybelle, ruft Tracy zu einem Protestmarsch zum Fernsehstudio gegen die Rassen-Trennung in der „Corny Collins Show“ auf, in der Schwarze nur einmal monatlich am „Negro Day“ auftreten dürfen. Die Demonstrations­teil­nehmer werden von der Polizei verhaftet und ins Gefängnis gesperrt.

Wilbur hinterlegt eine Kaution, damit die Frauen aus dem Gefängnis entlassen werden, mit Ausnahme seiner Tochter Tracy, die wegen Velma von Tussles Intrigen allein zurückbleibt. Edna kann inzwischen den Traum ihrer Tochter nachvollziehen, sie hat früher selbst davon geträumt, Kleider in Übergrößen zu entwerfen. Gemeinsam erinnern sich Edna und Wilbur an die Vergangenheit und versichern sich ihre Liebe. Unterdessen befreit Link Tracy aus dem Gefängnis, und Seaweed befreit Penny aus dem Gewahrsam ihrer Mutter. Beide Paare bekennen ihre Gefühle zueinander und suchen bei Motormouth Maybelle Unterschlupf. Doch Tracy will sich keinesfalls mit der Rassen-Trennung in der „Corny Collins Show“ abfinden, und so wird ein neuer Plan gefasst. Bei der Wahl zur „Miss Teenage Hairspray“ kommt es zum großen Showdown. Ende gut, alles gut … in der Realität haben sich weiße Bürgerrechtsaktivisten im Sommer 1963 an einem „Negro Day“ ins Studio von WJZ-TV geschlichen und die „Buddy Deane Show“ aufgemischt. Diese wurde 1964 abgesetzt, da man die Rassen-Integration dort nicht umsetzen konnte.

Katja Wolff hat „Hairspray“ in der aktuellen Tournee­produktion der Konzertdirektion Landgraf als Gute-Laune-Musical inszeniert, niemand erwartet bei diesem Stück ernsthaft ein tiefsinniges Rassismus-Drama. Wie bereits bei der „West Side Story“ im Opernhaus Wuppertal hat sie mit Choreograf Christopher Tölle zusammengearbeitet, der mit seinen rasanten Tanznummern für den gehörigen Drive sorgt. Jan Freese hat das Tournee-taugliche Bühnenbild mit dem überdimensionalen Fernsehgerät entworfen, Röhrengeräte wurden bekanntlich erst in diesem Jahrtausend von Flachbildschirmen abgelöst, und Heike Meixner („Sunset Boulevard“, Opernhaus Bonn und Opernhaus Dortmund, Tourneeproduktion der Konzertdirektion Landgraf) zeichnet für die zeitgemäßen Kostüme verantwortlich. Die Bigband des Bulgarischen Nationalen Rundfunks unter der Musikalischen Leitung von Heiko Lippmann bringt Marc Shaimans Musik aus der Zeit von Rhythm and Blues, Motown und Rock’n’Roll in zehnköpfiger Besetzung (einschließlich ML am Keyboard) souverän zu Gehör, Streicher und das dritte von MTI bzw. Musik und Bühne vorgesehene Keyboard könnten natürlich auch nicht schaden, im Orchestergraben des Ruhr­fest­spiel­hauses wäre dafür allemal genügend Platz gewesen. Aber im Vergleich zu anderen kommerziellen Musical-Produktionen kann man bei zehn Musikern bereits mehr als zufrieden sein. Die Soundabmischung war für eine Tourneeproduktion ausgesprochen gut, alle Darsteller*innen waren einwandfrei zu verstehen, was durchaus nicht selbstverständlich ist, zumal beim Soundcheck für jeden einzelnen Darsteller weniger als eine Minute Zeit zur Verfügung steht.

„Hairspray“, Ensemble. © Sabine Haymann

Während die Deutsche Erstaufführung mit Maite Kelly (Tracy Turnblad) und Uwe Ochsenknecht (Edna Turnblad, Tracys Mutter) beworben wurde, was prompt zu Verstimmung bei den Besuchern führte, wenn Letztgenannter nicht auf der Bühne stand, sind bei der aktuellen Tourneeproduktion der Konzertdirektion Landgraf keine bekannten „Stars“ mit Promifaktor engagiert, mit denen die Produktion beworben würde. Dies ist ab 1. Februar 2018 anders, denn die Fortsetzung der Tournee wird tatsächlich mit „Starbesetzung“ beworben. Ungeachtet dessen kann sich das Ensemble auch zum jetzigen Zeitpunkt schon mehr als nur sehen lassen. Beatrice Reece (u. a. Chiffon in „Der kleine Horrorladen (Little Shop of Horrors)“, Schwester Mary Patrick in „Sister Act – Das Broadway-Musical“, Anastasia Steele in „49½ Shades! Die Musical Parodie“, Dinosaurier, Afrikanerin, Kakerlake, Aminosäure, Arbeiterin in „Die Erschaffung der Welt – Das Musical“) hat die Rolle der Tracy Turnblad bereits beim Burgplatz Open Air Braunschweig 2017 gespielt und versprüht als kleiner Wirbelwind auf der Bühne jede Menge Energie, was schon einer ganzen Menge Durchhaltevermögen bedarf, auch gesanglich weiß sie zu überzeugen. Andrea Matthias Pagani (Max von Meyerling in „Sunset Boulevard“, Burgfestspiele Bad Vilbel 2017) ist als Tracys liebevolle Mutter Edna Turnblad zu sehen, die nur das Beste für ihre Tochter möchte und sie dementsprechend vor Enttäuschungen bewahren möchte. Claudius Freyer gibt den liebe- und verständnisvollen Ehemann und Vater Wilbur Turnblad. „Du bist zeitlos für mich“ böte allerdings m. E. in­sze­na­to­risch durchaus noch „Luft nach oben“, zumindest im Vergleich mit der Deutschen Erstaufführung oder der Produktion der Freilichtspiele Tecklenburg 2012. Devi-Ananda Dahm (Dorothea in „Grimm! Die wirklich wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf“, Sommerfestival im Admiralspalast, Berlin, und Neuköllner Oper, Berlin; Fara/Cover Mary Cullen in „Der Medicus“, Musical Sommer Fulda 2016) liefert ein überzeugendes Rollenportrait von Tracys bester Freundin ab, der zurückhaltenden, bisweilen gegen ihre Mutter rebellierenden Penny Pingleton. Angela Hunkeler (Frau Stalder/Frau Küpfer/Tessiner Fraueli in „Mein Name ist Eugen“, Maag Halle Zürich) hat als ihre besorgte Mutter Prudy Pingleton ein übersteigertes Bedürfnis, ihre Tochter zu kontrollieren, was Devi-Amanda Dahm natürlich als Steilvorlage zu diversen Pointen nutzen kann. Janko Danailow (Alfredo in „Die Schwarzen Brüder“) lässt als Fernsehmoderator Corny Collins die „Nicest Kids in Town“ in seiner Show tanzen, und Krisha Dalke (Baron Kempen, Cover Luigi Lucheni, Cover Kronprinz Rudolf in „Elisabeth – Das Musical“, Mr. Lowprice/Mr. Kent in „Vom Geist der Weihnacht“) verliebt sich als karrierebewusster Herzensbrecher Link Larkin ausgerechnet in Tracy, sehr zum Missfallen von Amber von Tussle, die von Maja Sikora (Janet van de Graaff in „Hochzeit mit Hindernissen (The Drowsy Chaperone)“) wunderbar zickig und beschränkt gespielt wird. Maja Sikora hat diese Rolle bereits beim Burgplatz Open Air Braunschweig 2017 sowie bei den Freilichtspielen Tecklenburg 2012 gespielt. Nicole Rößler (Vivian Moore in „Footloose“, Musical Sommer Amstetten 2016) kann in der Rolle ihrer arroganten, rassistischen Mutter Velma von Tussle ihr komisches Talent unter Beweis stellen; Velma von Tussle ist jedes Mittel Recht, ihrer Tochter zu dem Ruhm zu verhelfen, der ihr selbst versagt blieb. Amanda Whitford (Crystal in „Der kleine Horrorladen (Little Shop of Horrors)“) hat in der besuchten Vorstellung für Monica Lewis-Schmidt die Rolle der warmherzigen Afro-Amerikanerin Motormouth Maybelle übernommen, die ihr aus der Deutschsprachigen Erstaufführung in St. Gallen, der Produktion der Freilichtspiele Tecklenburg 2012 sowie der aktuellen Produktion des Landestheaters Linz bestens vertraut sein dürfte. Sie beschreibt ihr Rollenprofil mit „Big, blond und blendend“ selbst ungemein treffend und mit ihrem eindringlich berührenden „Ich weiß, wo ich war“ erinnert sie daran, dass es nicht nur um das Mittanzen in der „Corny Collins Show“ geht. Riccardo Haerri (Paul in „Kiss me, Kate“, Kreuzgangspiele Feuchtwangen 2017) hat es als Motormouth Maybelles Sohn Seaweed J. Stubbs Penny Pingleton auf den ersten Blick angetan, mit seinen Tanzkünsten verdreht er ihr im weiteren Verlauf vollends den Kopf. Chiara Fuhrmann (Cover Rachel Marron, Cover Nicki Marron in „Bodyguard – Das Musical“, Palladium Theater Stuttgart; Susan Hershey in „Ganz oder gar nicht (The Full Monty)“, Theater Kiel) spielt Seaweeds jüngere Schwester Little Inez, die ebenfalls gern in der „Corny Collins Show“ tanzen möchte, aber aufgrund ihrer Hautfarbe nicht genommen wird. Auch Frank Brunet („Evita“, Ronacher, Wien; Noah „Hengst“ T. Simmons/Reg Willoughby in „Ganz oder gar nicht (The Full Monty)“; Terry Connor in „Die Show ihres Lebens“) als Mr. Pinky/Mr. Harriman F. Spritzer/Schuldirektor) soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.

Wenn am Ende beinahe schon als Motto der Show „Niemand stoppt den Beat“ erklingt, gibt es auf der Bühne kein Halten mehr: Die „Corny Collins Show“ hat die Rassen-Integration umgesetzt, Penny Pingleton und Seaweed J. Stubbs sowie Tracy Turnblad und Link Larkin haben sich gefunden, und Edna Turnblad vertraut wieder auf ihre Träume. Die Zuschauer im nicht einmal zur Hälfte besetzten Auditorium zollten den Darsteller*innen nach etwa zweieinhalbstündiger, kurzweiliger Vorstellung begeistert Stehapplaus, die Gründe für die ausgesprochen schlechte Auslastung im Ruhr­fest­spiel­haus sind m. E. im Vorstellungstermin fünf Tage vor Heiligabend und der augenblicklich am Theater Dortmund im Repertoire gezeigten „Hairspray“-Produktion zu suchen, oder ganz woanders… Die aktuelle Tourneeproduktion der Konzertdirektion Landgraf wird nochmals am 19. Januar 2018 im Theater Marl und am 20. Januar 2018 im Städtischen Saalbau Witten in der Metropole Ruhr zu sehen sein und wird ab 1. Februar 2018 mit Uwe Kröger (Edna Turnblad) und Isabel Varell (Velma von Tussle) noch bis 5. Mai 2018 im deutschsprachigen Raum u. a. in der Wiener Stadthalle F (3. und 4. Februar 2018) und am Capitol Theater Düsseldorf (19. und 20. April 2018) fortgesetzt.

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