Theater Hagen: „In den Heights von New York“

„In den Heights von New York“ – Musik, Texte: Lin-Manuel Miranda; Buch: Quiara Alegría Hudes; Deutsche Bearbeitung: Laura Friedrich Tejero; Inszenierung: Sascha Wienhausen; Choreografie: Sêan Stephens; Ausstattung: Ulrike Reinhard; Lichtdesign: Hans-Joachim Köster; Sounddesign: Sascha Kramski; Dramaturgie: Corinna Jarosch; Musikalischer Leiter: Steffen Müller-Gabriel. Darsteller: Felix Freund** (Usnavi de la Vega), Kara Kemeny** (Nina Rosario), Jonathan Agar (Kevin Rosario), Carolina Walker** (Camila Rosario), David Bruce Whitley (Benny), Celena Pieper* (Vanessa), Aniello Saggiomo* (Sonny de la Vega), Marilyn Bennett („Abuela“ Claudia), Annina Hempel* (Daniela), Marlene Jubelius* (Carla), Lennart Christian* (Graffiti Pete), Johan de Bruin (Piragüero), Sandro Brosi* (José), Diana Guss* (Arlin), Tobias Georg Biermann* (Lewis), Torben Rose* (Jeremy). Musiker: Andreas Laux (Reed 1), Klaus Korte (Reed 2), Beate Sobiesinski-Brandt (Flöte), Axel Riesenweber (Trompete 1), Trompete 2: Andreas Sichler (Trompete 2), Tobias Wember (Poasune 1), Daniel Seemann (Posaune 2), Christian Kiefer (Gitarre), Rudolf Behrend (E-Bass), Michael Weiss (Keyboards), Alfonso Garrido, Timo Erdmann (Percussion), Volker Reichling (Drums). *Studierende des dritten Jahrganges am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück. **Absolventen des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück. Ballett des theaterhagen, Chor des theaterhagen. Broadway-Premiere: 9. März 2008, Richard Rodgers Theatre, New York City. West End Premiere: 3. Oktober 2015, King’s Cross Theatre, London. Deutschsprachige Erstaufführung: 6. Mai 2015, Konservatorium Wien Privatuniversität (seit 3. November 2015 Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien). Premiere: 16. September 2017, Theater Hagen, Großes Haus.



„In den Heights von New York“


Das Hip-Hop- & Latin-Musical von Lin-Manuel Miranda am Theater Hagen


„In den Heights von New York“, theaterhagen, Felix Freund (Usnavi de la Vega). Foto Klaus Lefebvre

„In den Heights von New York“ spielt in den Washington Heigths, ein Stadtviertel von New York City im äußersten Norden der Insel Manhattan, das seit den 1970er-Jahren größtenteils von Einwanderern aus der Karibik, der Dominikanischen Republik, Kuba, Chile oder Puerto Rico geprägt ist. Im zweiten Jahr seines Studiums an der Wesleyan University begann Lin-Manuel Miranda (* 16. Januar 1980 in Washington Heigths, New York City) die Arbeit an „In the Heights“, das mit einem Mix aus Hip-Hop, Rap und Salsa in Hagen verstärkt junges Publikum ansprechen soll. „In the Heights“ feierte nach Tryouts am Eugene O'Neill Theater Center in Waterford, Connecticut und off-Broadway am 37 Arts Theatre am 9. März 2008 am Richard Rodgers Theatre seine Broadway-Premiere und wurde bis 9. Januar 2011 mit 1.184 regulären Vorstellungen gespielt. Die Broadway-Produktion wurde 2008 mit vier Tony Awards als „Bestes Musical“, für die „Beste Originalmusik“, „Beste Choreografie“ und „Beste Orchestrierung“ ausgezeichnet und 2009 für den Pulitzer-Preis in der Kategorie „Drama“ nominiert. „In den Heights von New York“ wurde vom Studiengang Musikalisches Unterhaltungstheater der Konservatorium Wien Privatuniversität (seit 3. November 2015 Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien) am 6. Mai 2015 als Deutschsprachige Erstaufführung in der Bearbeitung von Laura Friedrich Tejero gezeigt, die selbst die Rolle der Nina Rosario gespielt hat. Lin-Manuel Mirandas Broadway-Musical „Hamilton: An American Musical“ über den ersten amerikanischen Finanzminister nach der Biografie „Alexander Hamilton“ von Ron Chernow gewann 2016 11 Tony Awards sowie den Pulitzer-Preis in der Kategorie „Drama“.

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Carolina Walker (Camila Rosario), Kara Kemeny (Nina Rosario) und Jonathan Agar (Kevin Rosario). Foto Klaus Lefebvre

Die Geschichte von „In den Heights von New York“ spielt an drei aufeinanderfolgenden Tagen um den Unabhängigkeitstag (4. Juli): Usnavi de la Vega (angeblich gab der uneheliche Vater seinem Sohn den Namen, nachdem er ein Schiff mit der Aufschrift US Navy gesehen hatte) gehört eine Bodega im Stadtteil Washington Heights unter der Washington Bridge, er träumt von einer Rückkehr zu seinen Wurzeln in die Dominikanische Republik. Zu seinen Nachbarn gehört die alte „Abuela“ Claudia, die ihn praktisch aufgezogen hat, als seine Eltern gestorben sind, als er noch ein Kind war. Usnavi ist heimlich in Vanessa verliebt, die auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung und einer stabilen Beziehung ist. Neben der Bodega befindet sich Danielas Schönheitssalon, in dem neben Vanessa auch Carla arbeitet. Gegenüber liegt der Limousinen-Service von Kevin Rosario und seiner Frau Camila. Ihre Tochter Nina studiert an der Leland Stanford Junior University, kehrt zum Unabhängigkeitstag zu ihren Eltern zurück und erklärt ihnen, dass sie ihr Stipendium verloren hat und daher die Studiengebühren nicht mehr bezahlen kann. Obendrein liebt sie Kevins Assistenten Benny, einen Amerikaner, der nicht einmal Spanisch sprechen kann und kurzerhand von Kevin gefeuert wird. Am Abend vor dem Unabhängigkeitstag gibt es einen Stromausfall, möglicherweise durch die große Hitze verursacht, in den Washington Hights bricht das Chaos aus und Usnavis Bodega wird von Vandalen verwüstet. Der plötzliche Tod von „Abuela“ Claudia ändert alles, denn die alte Dame hatte bei Usnavi ein Lotterielos gekauft, das 96.000 Dollar gewonnen hat. Genug, um von einem besseren Leben an einem anderen, schöneren Ort zu träumen…

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Lennart Christan (Graffiti Pete), Felix Freund (Usnavi de la Vega), David Bruce Whitley (Benny). Foto Klaus Lefebvre

Nachdem das Theater Hagen bereits unter der Intendanz von Norbert Hilchenbach erfolgreich „Avenue Q“ (Premiere 5. September 2015) in Kooperation mit dem Studiengang Musical/Vokalpädagogik am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück und deren Institutsleiter und Studiendekan des Instituts für Musik, Sascha Wienhausen, produziert hat, konnte dem neuen Intendanten Francis Hüsers IMHO womöglich nichts besseres passieren als die bereits beschlossene Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen dem Theater Hagen und dem Institut für Musik der Hochschule Osnabrück mit „In den Heights von New York“, das im professionellen Bereich im deutschsprachigen Raum bisher nur am Konservatorium Wien Privatuniversität gezeigt wurde. Alle Rollen mit Ausnahme von Marilyn Bennett aus dem Ensemble des Theater Hagen als „Abuela“ Claudia, David Bruce Whitley als Benny, Jonathan Agar als Kevin Rosario und Johan De Bruin aus dem Opernchor des Theater Hagen als Piragüero (Verkäufer von puertorikanischem Eis-Dessert) sind mit Studierenden des dritten Jahrganges und Absolventen des Studiengangs Musical/Vokalpädagogik am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück besetzt. Wenn das keine Win-win-Situation ist, dann weiß ich es auch nicht. Für ein Stadttheater dürfte es IMHO unmöglich sein, „In den Heights von New York“ auch nur annähernd glaubwürdig aus dem eigenen Opernensemble zu besetzen, von den tänzerischen Anforderungen des Hip-Hop- & Latin-Musicals ganz zu schweigen.

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Marlene Jubelius (Carla), Annina Hempel (Daniela), Diana Guss (Arlin), Ensemble. Foto Klaus Lefebvre

Felix Freund (Lucas Beineke in „The Addams Family“, Theater Osnabrück, Inszenierung Felix Seiler) tritt in Hagen als Usnavi de la Vega in Lin-Manuel Mirandas Fußstapfen, der am Broadway selbst die Rolle des Usnavi de la Vega gespielt hat. Als liebenswerter Bodega-Besitzer und aufmerksamer Beobachter führt er die Zuschauer durch die Handlung, mit seinem schnellen, rhythmischen Sprechgesang und den daraus resultierenden typischen Körperbewegungen weiß er das Publikum für sich zu begeistern. Nur der Anblick seiner geliebten, atemberaubend schönen Vanessa kann ihm schonmal die Sprache verschlagen, die in Hagen von Celena Pieper verkörpert wird und davon träumt, aus den Washington Hights herauszukommen und eine Wohnung in der Innenstadt zu bekommen. In Reminiszenz an seine Zieh-Großmutter Mundi hat Lin-Manuel Miranda die Rolle der „Abuela“ Claudia geschaffen, in der sich Marilyn Bennett fürsorglich um ihre Mitbewohner und speziell um Usnavi kümmern kann. Mit ihrem großen Song „Paciencia y fe“ weiß sie das Publikum zu bezaubern, in dem sie schildert, wie sie selbst in Kindertagen 1943 aus Kuba nach Amerika eingewandert ist.

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Marilyn Bennett („Abuela“ Claudia) und Felix Freund (Usnavi de la Vega). Foto Klaus Lefebvre

Kara Kemeny (Nonne in „The Addams Family“, Theater Osnabrück, Inszenierung Felix Seiler) als Nina Rosario hat es als erste aus dem Stadtviertel an die Leland Stanford Junior University geschafft, und muss bei ihrer Rückkehr nach dem ersten Studienjahr ihren Eltern widerstrebend beichten, dass sie ihr Stipendium verloren hat und daher ihre Ausbildung an der Stanford University nicht mehr fortsetzen kann. Jonathan Agar ist als Ninas überfürsorglich Vater Kevin Rosario dementsprechend am Boden zerstört, dass er nicht für seine Tochter sorgen kann, und verkauft seinen Limousinen-Service, um ihr die Fortsetzung des Studiums zu ermöglichen. Mit seinem Song „Nichtsnutz“/„Inútil“ weiß er zu berühren. Carolina Walker (Kate Monster in „Avenue Q“, Theater Hagen) beendet schließlich als Camila Rosario, Ninas willensstarke Mutter, in ihrem Song „Genug“/„Enough“ den Familienstreit um Ninas Freund Benny, einem Afroamerikaner, gespielt von David Bruce Whitley (Reverend Cleophus James/Ray Charles in „Die Blues Brothers“, Theater Hagen, Inszenierung Roland Hüve), der als Kevins Angestellter davon träumt, sein eigenes Geschäft zu eröffnen. Carolina Walker würde man ohne große Probleme auch Ninas große Schwester „abnehmen“, aber ein Stück weit ist „In den Heights von New York“ in Hagen eben auch eine Produktion des Studiengangs Musical/Vokalpädagogik am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück, in der Darsteller unabhängig vom Alter besetzt werden, und Carolina Walker macht deswegen als Camila Rosario auch keinen unglaubwürdigen Eindruck. David Bruce Whitley wirkt dagegen eher wie ein väterlicher Freund als ein Lebenspartner für eine Studentin, er ist im realen Leben 28 Jahre älter als Kara Kemeny. Annina Hempel hat als Schönheitssalon-Besitzerin Daniela zwar immer eine „große Klappe“, aber als es darauf ankommt, bürgt sie dank ein wenig Überzeugungsarbeit von Usnavi für Vanessas Traumwohnung im West Village. Allen DarstellerInnen ist ihre Spielfreude anzumerken, und auch wenn einige Figuren in der Buchvorlage von Quiara Alegría Hudes eher blass gezeichnet sind, so haben doch alle ihren Anteil an dem beinahe ständig überschäumenden Freudenfest auf der Bühne, dessen entscheidender Punkt in den treibenden lateinamerikanischen Rhythmen zu finden ist.

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Marlene Jubelius (Carla), Annina Hempel (Daniela) und Celena Pieper (Vanessa). Foto Klaus Lefebvre

Sascha Wienhausen hat mit „In den Heights von New York“ ein Musical nach Hagen gebracht, welches in keine der gängigen Schubladen passt, mit seiner temporeichen, mitreißenden Inszenierung schildert er authentisch die Lebensumstände und Träume der Einwanderer in den Washington Heights. Während man im Hintergrund vertanzte Songs wie beispielsweise den Pas de deux zu Ninas „Ruhig“/Breathe“ schon häufig gesehen hat, versinnbildlichen auf „Hoverboards“ über die Bühne fahrende Darsteller im Song „Lang dauert’s nicht mehr“/„It Won’t Be Long Now“ Vanessas Traum, den Washington Heights in ein Apartment im West Village zu entkommen. Sêan Stephens (Richard O´Brien´s „The Rocky Horror Show“, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen) hat mit seinen rasanten Choreografien das Kunststück fertiggebracht, nicht nur (angehende) Musical­dar­stellerInnen und das Ballett des theaterhagen unter einen Hut zu bekommen, sondern auch noch den Chor des theaterhagen, so dass auf der Bühne in den großen Ensemblenummern wie „96.000“ oder „Carnaval del Barrio“ alle gut aussehen. Sein Hauptaugenmerk galt aber doch eher einer Verschmelzung der MusicaldarstellerInnen mit den BalletttänzerInnen, was ihm sichtlich gut gelungen ist. Das Bühnenbild (Ausstattung: Ulrike Reinhard) wird von den Tragseilen einer stilisierten Hängebrücke und einer Skyline im Hintergrund dominiert, das passenden zur Tageszeit in unterschiedlichen Lichtstimmungen ausgeleuchtet wird (Lichtdesign: Hans-Joachim Köster). Von rechts und links können Usnavis Bodega und Kevins Limousinen-Service auf die Bühne geschoben werden, deren jeweilige obere Stockwerke als Schlafzimmer, in dem Nina und Benny die Nacht miteinander verbringen, bzw. Vanessas Schlafzimmer fungieren. Danielas Schönheitssalon wird durch ein aus dem Schnürboden herabgelassenes Bühnenprospekt sowie Frisierstühle angedeutet. Die 13 Musiker des philharmonischen orchesterhagen mit Gästen (Orchesterbesetzung s. o.) unter der Musikalischen Leitung von Kapellmeister und Studienleiter Steffen Müller-Gabriel entfachen mit Lin-Manuel Mirandas kraftvoller Musik im Orchestergraben ein wahres musikalisches Feuerwerk, was insofern teilweise problematisch wird, wenn die Gesangssolisten auf der Bühne nicht mehr einwandfrei zu verstehen sind. Hier wäre ein wenig Feintuning beim Sounddesign sicherlich sinnvoll.

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Kara Kemeny (Nina Rosario) und David Bruce Whitley (Benny). Foto Klaus Lefebvre

Das Premierenpublikum feierte alle Darsteller, Sänger, Tänzer, Musiker und das Kreativteam mit langanhaltendem, enthusiastischem Stehapplaus. Der verdiente Lohn für eine überzeugende Leistung. „In den Heights von New York“ steht am Theater Hagen mit insgesamt 11 Vorstellungen bis 14. März 2018 auf dem Spielplan.

„In den Heights von New York“, theaterhagen, Felix Freund (Usnavi de la Vega), Diana Guss (Arlin), Annina Hempel (Daniela), Marlene Jubelius (Carla), Ensemble. Foto Klaus Lefebvre

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