„Alice in Wonderland“

„Alice in Wonderland“ – Ballett von Luiz Fernando Bongiovanni nach Motiven des gleichnamigen Kinderbuchklassikers von Lewis Caroll aus dem Jahre 1865. Choreografie: Luiz Fernando Bongiovanni; Musik: Eduardo Contrera, Alfred Schnittke u. a.; Bühne: Britta Tönne; Kostüme: Ines Alda; Licht: Mariella von Vequel-Westernach; Dramaturgie: Anna Grundmeier. Francesca Berruto (Alice), Junior Demitre (Vater), Ayako Kikuchi (Mutter), Valentin Juteau (Das weiße Kaninchen), Ledian Soto (Die blaue Raupe/Guru), Madeline Andrews und Tessa Vanheusden (Guruetten), Rita Duclos, Ayako Kikuchi, Sara Zinna (Alice Doubles), Louiz Rodrigues (Der verrückte Hutmacher), Ledian Soto (Humpty Dumpty), Carlos Contreras und José Urrutia (Tweedledee und Tweedledum), Louiz Rodrigues (Grinsekatze), Bridget Breiner (Herzkönigin), Louiz Rodrigues (Richter/Herzkönig), Madeline Andrews, Rita Duclos, Tessa Vanheusden, Sara Zinna (Die bösen Blumen), Carlos Contreras, Ledian Soto und José Urrutia (Soldatentrio). Uraufführung: 31. Oktober 2015, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen. Besuchte Vorstellung: 7. November 2015.



„Alice in Wonderland“


Ballett-Uraufführung am Musiktheater im Revier


Der britische Schriftsteller, Fotograf und Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson (* 27. Januar 1832 in Daresbury im County Cheshire, † 14. Januar 1898 in Guildford im County Surrey, besser bekannt unter dem Namen Lewis Carroll) erzählte den drei Schwestern Lorina Charlotte, Alice Pleasance und Edith Liddell bei einer Bootsfahrt auf der Themse eine Geschichte, die er auf Anraten eines Freundes zunächst unter dem Titel „Alice’s Adventures Under Ground“ niederschrieb und am 4. Juli 1865 als „Alice’s Adventures in Wonderland“ veröffentlichte. Die Geschichte, in der Spielkarten als durchgehendes Thema dienen, gilt als Klassiker der Kinderliteratur. Aufgrund des logischen Aufbaus der fiktionalen Welt erfreut sich das Werk nicht nur bei Kindern großer Beliebtheit, sondern auch bei Fachleuten, die es gerne mit Naturwissenschaften wie Mathematik, Astronomie und Informatik in Verbindung bringen. Bekannt sind die ersten Ausgaben auch durch die Illustrationen des britischen Zeichners John Tenniel (* 28. Februar 1820 in London, † 25. Februar 1914 in London), 1998 wurde eine Erstausgabe für 1.500.000 US-$ versteigert. 1871 erschien die Fortsetzung „Through the Looking-Glass, and What Alice Found There“, in der die Handlung rund um eine Schachpartie aufgebaut ist. Hieraus stammen das Unsinns-Gedicht „Jabberwocky“ und bekannte Figuren wie Humpty Dumpty oder die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum.

Valentin Juteau (Das weiße Kaninchen), Francesca Berruto (Alice). Foto Costin Radu

Die Geschichten wurden häufig verfilmt, zuletzt von Walt Disney Pictures als 3D-Fantasy-Film „Alice in Wonderland“ (UA: 25. Februar 2010 im Londoner Kino Odeon Leicester Square), Mia Wasikowska und Johnny Depp spielten unter der Regie von Tim Burton die Rollen der Alice Kingsleigh und des verrückten Hutmachers. Die Fortsetzung „Alice Through the Looking Glass“ soll am 27. Mai 2016 in die Lichtspielhäuser kommen. Ebenso existieren zahlreiche Bühnenadaptionen, Frank Wildhorn (Musik) und Jack Murphy (Lyrics) verfassten die Musicalfassung „Wonderland: Alice’s New Musical Adventure“, die am 5. Dezember 2009 am David A. Straz Jr. Center for the Performing Arts in Tampa, Florida mit Janet Dacal als Alice uraufgeführt wurde und in überarbeiteter Fassung als „Wonderland: A New Alice“ am 17. April 2011 am Marquis Theatre seine Broadway-Premiere erlebte. Am 25. Oktober 2008 feierte das Handlungsballett „Alice im Wunderland“ von Roberto Campanella in Kooperation mit der Augsburger Puppenkiste am Theater Augsburg Premiere, und am 28. Februar 2011 wurde das Ballett „Alice’s Adventures in Wonderland“ von Christopher Wheeldon erstmals am Royal Opera House in Covent Garden, London aufgeführt.

Francesca Berruto (Alice). Foto Costin Radu

In der Spielzeit 2012/2013 kreierte der Brasilianer Luiz Fernando Bongiovanni am Musiktheater im Revier bereits das Solo „Cultural Cannibalism“ für Junior Demitre im Rahmen des Tanzproduktion „Der erste Gang!“. Für „Alice in Wonderland“ konnte Ballettdirektorin Bridget Breiner den experimentier­freudigen Choreografen erneut gewinnen, und auch Bühnenbildnerin Britta Tönne hat mit einem besonderen Raumkonzept im Kleinen Haus experimentiert, in dem die Zuschauer die Choreografien von drei Seiten erleben können. Im Foyer werden die Besucher bereits mit unzähligen Türen und der feinen Teegesellschaft aus Carrolls Erzählung auf den Ballettabend eingestimmt.

Valentin Juteau (Das weiße Kaninchen), Francesca Berruto (Alice). Foto Costin Radu

Luiz Fernando Bongiovanni widmet sich in seiner Neukreation für das Ballett im Revier den „verborgenen Kammern“ in Carrolls vermeintlicher Kindergeschichte: Mit seiner unkonventionellen Bewegungssprache, die neben dem klassischen Vokabular auch von speziellen Improvisations­techniken geprägt ist, bringt er „Alice in Wonderland“ als ebenso skurrile wie spirituelle Identitätsreise auf die Bühne des Kleinen Hauses: Die junge Alice hat von den Streitereien ihrer Eltern genug und geht erstmal in der Diskothek abhotten. Bei Stroboskop-ähnlichen Lichteffekten – wo war eigentlich der Hinweis auf die Verwendung selbiger? Gab es offensichtlich 1865 noch nicht – und womöglich in Trance begegnet ihr ein weißes Kaninchen, dem sie aus Neugierde in seinen „Bau“ mit unzähligen Türen folgt. Alice beginnt unglücklich zu weinen, und bald überfluten ihre Tränen die gesamte Diele. Schließlich schwimmen viele Tiere in dem Tränensee, und um wieder trocken zu werden, veranstalten sie ein Caucus-Rennen, bei dem alle im Kreis laufen.

Ayako Kikuchi (Mutter) und Junior Demitre (Vater). Foto Costin Radu

Auf der Suche nach dem richtigen Weg begegnet sie der blauen Raupe, die ihr erklärt, dass man sich durchaus verändern kann. Schließlich kommt sie zu der feinen Teegesellschaft mit dem Hutmacher, dem Märzhasen und der Schlafmaus, die den ganzen Tag nur Tee trinken. Die Teegesellschaft ist allerdings so verrückt, dass Alice nach kurzer Zeit beschließt, wieder zu gehen. Sie begegnet den Zwillingen Tweedledee und Tweedledum, die sich nicht einig werden können, wer denn nun eigentlich wer ist. Ihr weiterer Weg führt Alice zur rigiden Herzkönigin, die sofort „Kopf ab!“ fordert, wenn jemand nicht nach ihrem Willen funktioniert. Am Schloss der Herzkönigin kommt es zu einer Gerichts­ver­handlung, bei der der Herzbube des Diebstahls der Törtchen der Königin angeklagt ist. Wie der verrückte Hutmacher soll auch Alice als Zeugin aussagen, doch irgendwann geht jeder Rauschzustand einmal zu Ende. Alice hat inzwischen zu sich selbst gefunden und ist kein Kind mehr…

Valentin Juteau (Das weiße Kaninchen), Bridget Breiner (Herzkönigin), Ensemble. Foto Costin Radu

Wenngleich die Steampunk-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ erst zwei Wochen nach „Alice in Wonderland“ ihre Uraufführung am Musiktheater im Revier feiern wird, fällt doch die Entstehung von Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“ ebenfalls in das Viktorianische Zeitalter, dementsprechend hat Bühnen- und Kostümbildnerin Ines Alda für Alice schwarze Kleidung als auffälligstes Merkmal gewählt, durch schwarz betonte Augen noch akzentuiert. Weshalb sie wohl lediglich aufgrund ihres Äußeren andernorts mit Wednesday Addams verglichen wurde, obwohl ihr doch die entscheidenden Charaktereigenschaften dieser Figur gänzlich fehlen. Doch keine Sorge, „Alice in Wonderland“ kommt ansonsten eher als bildgewaltiger, kunterbunter und bisweilen auch total abgedrehter Reigen daher, hinter jeder Tür in der rückwärtigen Begrenzung der Bühne wartet eine neue Überraschung auf Alice und die Zuschauer, da steht auch schon mal die Welt auf dem Kopf. Da fällt es am Ende nicht weiter ins Gewicht, dass der Hofstaat der Herzkönigin nicht explizit in Gestalt von Spiel­karten­soldaten zu sehen ist. Bisweilen werden Original-Zitate von Lewis Carroll wie „Begin at the beginning and go on till you come to the end: then stop.“ („Alice’s Adventures in Wonderland“, Kapitel XII, Alice’s Evidence) oder „If you don’t know where you are going, any road will take you there.“ auf die Wand aus Türen projiziert, die Bezüge zur Vorlage herstellen sollen.

Louiz Rodrigues (Herzkönig), Bridget Breiner (Herzkönigin), Ensemble. Foto Costin Radu

Die gebürtige Italienerin Francesca Berruto überzeugt in der Titelpartie des jungen Mädchens in seiner Entwicklung zur eigenen Identität sowohl solistisch als auch in ihren Pas de deux mit Valentin Juteau (Das weiße Kaninchen), auch Ayako Kikuchi (Mutter) und Junior Demitre (Vater) brillieren in den Rollen der Eltern und besonders in ihrem harmonischen Pas de deux im Wunderland. Louiz Rodrigues ist in der Rolle der Grinsekatze, die Alice verführerisch die blauen Blumen ihrer Eltern abluchst, eher durch seine geschmeidigen Bewegungen zu erkennen als durch Kostüm und Maske. Ballettdirektorin Bridget Breiner fällt im zweiten Teil wortwörtlich mit der Tür ins Haus, um en pointe als rigide Herzkönigin wie eine von der Tarantel gestochene Furie den Kopf eines jeden ihrer Widersacher zu fordern, in diesem Fall visuell unterstützt durch ein bluttriefendes Kostüm und entsprechende Maske. Doch nicht nur die Solisten, sondern das gesamte Corps de ballet trägt maßgeblich zum Erfolg des kurzweiligen, unterhaltsamen Ballettabends bei, für den es am Ende großen Beifall gab. „Alice in Wonderland“ steht noch bis 10. Januar 2016 auf dem Spielplan am Musiktheater im Revier.

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