„Kennst du den Mythos…?“

„Kennst du den Mythos…?“ – Die Jubiläumsshow zum 111. Geburtstag des FC Schalke 04. Musik: Dieter Falk, Heribert Feckler; Texte: Ulf Schmidt; Projektleitung und künstlerische Umsetzung: Michaela Dicu; Choreografie: Cedric Sprick; Video Design: Jan Peter; Bühne: Georgios Kolios; Kostüm Design: Andreas Meyer; Dramaturgie: Anna Grundmeier; Musikalische Leitung: Heribert Feckler. Erzählerin (Film): Anna Thalbach. Gesangssolisten: Joachim Gabriel Maaß, Bonita Niessen, Piotr Prochera, Lars-Oliver Rühl, Petra Schmidt, Anke Sieloff, Henrik Wager, Giuseppe Todaro (Rap). Tänzerinnen: Fatoumata Camara, Violetta Kromer, Katja Morozova (Dance-Captain), Jouana Samia Wehbi. Band: Klaus Bittner (Gitarre), Gero Gellert (E-Bass), Gerd Körner (Keyboard), Jürgen Pfeiffer (Drums). Neue Philharmonie Westfalen, Trommlergarde des FC Schalke 04, Opern- und Extrachor des MiR, Junger Chor Beckhausen. Uraufführung: 10. September 2015, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen (geschlossene Vorstellung). Besuchte Vorstellung: 17. September 2015.



„Kennst du den Mythos…?“


Das Schalke-OraTORium zum 111-jährigen Bestehen des Fußballvereins


Am 4. Mai 1904 gründeten Wilhelm „Willy“ Gies, Johann Kessel, Viktor Krogull, Heinrich Kullmann, Adolf Oetzelmann, Ferdinand Gebauer, Johannes Hornung, Josef Seimetz, Willy van den Berg und Josef Versen, die der Legende nach in einem Hinterhof nahe der Gewerkenstraße am Schalker Markt gemeinsam Fußball spielen wollten, einen losen Verein, dem sie den Namen „Westfalia Schalke“ gaben. Dieses Datum wird vom „FC Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V.“ gern als Geburtsstunde ihres Vereins angesehen. Eine Eintragung ins Vereinsregister der Stadt Gelsenkirchen erfolgte erst 1909, und um auch vom damaligen Fußballverband, dem Westdeutschen Spielverband, offiziell anerkannt zu werden, erfolgte 1912 der Zusammenschluss mit dem „Turnverein Schalke 1877“ unter Präsident Fritz Unkel, zunächst als eigenständige Abteilung, bis am 24. Juli 1919 der endgültige Zusammenschluss zum „Turn- und Sportverein Schalke 1877“ erfolgte. Am 5. Januar 1924 trennten sich die Turn- und Fußballabteilung des Vereins wieder, und die Fußballer wählten als neuen Namen „Fußballklub Schalke 04 e. V.“. Man könnte also mit Fug und Recht behaupten, dass der „FC Schalke 04 e. V.“ in diesem Jahr erst 91 Jahre existiert… Auf der anderen Seite soll man die Feste bekanntlich feiern wie sie fallen, und wer wird es dem „FC Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V.“ da schon verdenken, dass er in der vergagenen Woche seinen ungewöhnlichen Geburtstag mit der Jubiläumsshow „Kennst du den Mythos…?“ ganz groß in der Veltins-Arena feiern wollte, wo bereits 2004 über 50.000 Schalker an gleicher Stelle das 100-jährige Bestehen des S04 mit einer großen Feier ausgiebig feierten.

„Kennst du den Mythos…?“, Bonita Niessen; © Pedro Malinowski

Bereits zum 100-jährigen Bestehen pilgerten die Schalker Fans ins Musiktheater im Revier, wo das musicalische Geburtstagsgeschenk „nullvier – Keiner kommt an Gott vorbei“ von Enjott Schneider (Musik), Thomas Zoller (Arrangements), Michael Klaus (Libretto) und Bernd Matzkowski (Lyrics) (Premiere 9. Mai 2004, Regie Matthias Davids) zu sehen war. Da lag es beinahe auf der Hand, mit einer Schalke-affinen musikalischen Produktion an die Aufführung des „Schalke-Musicals“ anzuknüpfen. Und so wurde anlässlich des 111-jährigen Bestehens das Schalke-OraTORium „Kennst du den Mythos…?“ in Auftrag gegeben, bei dem in Zusammenarbeit mit dem Musiktheater im Revier die bewegenden Momente, dramatischen Krisen und schillernsten Figuren aus 111 Jahren Vereinsgeschichte multimedial und interaktiv auf Bühne und Leinwand wiederauferstehen. Die Uraufführung fand am 10. September 2015 im Musiktheater im Revier als als geschlossene Vorstellung statt, schließlich hat der Verein nach Angaben von Clemens Tönnies bei der Mitgliederversammlung im Juni 2015 136.205 Mitglieder, das Musiktheater im Revier verfügt dagegen „nur“ über etwa 1.000 Plätze im Großen Haus. Die „große Sause“, zu der man sich gut 40.000 Besucher erhofft hatte, stieg am 11. September 2015 in der Veltins-Arena – ursprünglich war sie für den 12. September 2015 angekündigt, und dem Vernehmen nach soll es durchaus vorgekommen sein, dass Besucher von außerhalb nicht über die Terminverschiebung informiert waren. Am Ende sollen es dann Presseberichten zufolge 30.000 Zuschauer gewesen sein, die das Spektakel im Multifunktionsstadion besucht haben. Das sagt IMHO bereits einiges über das Interesse der breiten Masse am „FC Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V.“ aus, der sich selbst gern als „den geilsten Club der Welt“ bezeichnet, wobei Anhänger von Borussia Dortmund das sicherlich ganz anders sehen. Und auch über das Interesse der eigenen Fans an „Kennst du den Mythos…?“

„Kennst du den Mythos…?“; © Pedro Malinowski

Doch die Veltins-Arena ist nicht das Große Haus des Musiktheaters im Revier, wo das „Nachspiel“ ab dem 17. September 2015 zu sehen ist, allerdings nicht – wie im April 2015 angekündigt – bis 21. Juni 2016 gleich neun Mal, sondern nur bis 3. Januar 2016 in insgesamt acht Vorstellungen. Das „Schalke-OraTORium“ – in der musikalischen Formenlehre nennt man die dramatische, mehrteilige Vertonung einer zumeist geistlichen Handlung Oratorium – hat natürlich nicht das Geringste mit einer geistlichen Handlung zu tun, auch wenn hartgesottene Fans den „FC Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V.“ gern zur Religion erheben, sondern fällt als Singspiel mit wechselnden Solisten und einem mächtigen Chor eher in das Genre Pop-Oratorium. Dieter Falk hat bekanntlich auch die Musik für die beiden Pop-Oratorien „Die 10 Gebote“ und „Luther“ komponiert, in denen es sehr wohl um religiöse Themen geht, die Dieter Falk mit Popmusik einem breiten Publikum zugänglich machen möchte. Aufgrund der Showelemente wäre die Zuordnung zur Gattung der Revue sicher ebenfalls legitim, in der es auch keinen durchgehenden Handlungsstrang gibt, nur für was es Schalke Fans halten, das ist es mit Sicherheit nicht: „Kennst du den Mythos…?“ ist kein Musical! Solisten des Opernensembles am Musiktheater im Revier (Joachim Gabriel Maaß, Piotr Prochera, Lars-Oliver Rühl, Petra Schmidt, Anke Sieloff) feiern bei „Kennst du den Mythos…?“ zusammen mit Bonita Niessen (Engel in „Die 10 Gebote“ von Michael Kunze und Dieter Falk, Uraufführung 17. Januar 2010, „Luther“ von Michael Kunze und Dieter Falk, Uraufführung 31. Oktober 2015, Westfalenhalle Dortmund) und dem Rock-, Pop- und Musical-Sänger Henrik Wager (Jesus von Nazareth in „Jesus Christ Superstar“, Frederick Trumper in „Chess“, Aalto Theater Essen, Conférencier in „Cabaret“, Frank´n´Furter in Richard O´Brien´s „The Rocky Horror Show“, Theater Hagen), Rapper Giuseppe Todaro, dem Opern- und Extrachor des MiR und dem Junger Chor Beckhausen, der Neuen Philharmonie Westfalen und einer Rock-Band die bekanntesten Hymnen und präsentieren brandneue Songs – Mitsingen ausdrücklich erwünscht. 111 Jahre Vereinsgeschichte lassen Raum für unterschiedlichste Genres wie Swing, Jazz, Tango, Schlager, Oper, Pop, Rock bis hin zum Rap. Dabei darf natürlich das „Steigerlied“ („Glück auf, der Steiger kommt“), „Steht auf, wenn ihr Schalker seid“ und das offizielle Vereinslied des FC Schalke 04 („Blau und Weiß, wie lieb’ ich dich“) nicht fehlen. Wer das Steigerlied vermisst hat, es wird während des Sprechgesangs „Aufstehen, immer wieder aufstehen“ vom Chor intoniert. Regisseur Jan Peter zeichnet für die Filmproduktion verantwortlich, die mit Spielfilm­sequenzen und historischen Filmdokumenten das Geschehen auf der Bühne medial illustriert, Anna Thalbach führt darin in Schauspielszenen und Kommentaren durch die letzten 111 Jahre.

„Kennst du den Mythos…?“, Anna Thalbach (virtuell auf der großen Leinwand), Heribert Feckler (ML); © Pedro Malinowski

Während die Veranstaltung mit der Trommlergarde des FC Schalke 04 lautstark begann, dazu wurden in den Logen Fahnen des „FC Gelsenkirchen-Schalke 04 e. V.“ geschwenkt, was sicherlich Stadionatmosphäre vermitteln soll, mündete sie danach unmittelbar in eine tontechnische Katastrophe. Bonita Niessen wird im glitzernd blauen Kleid aus dem Orchestergraben hinaufgefahren und fragt „Kennst du den Mythos?“, dem die Geschichte des Vereins gleiche, aber die Chöre und der Ton der Spielfilmsequenzen mit Anna Thalbach werden von der Neuen Philharmonie Westfalen hoffnungslos übertönt, so dass wirklich kein einziges Wort zu verstehen war. Dies wurde mir in der Pause sogar von Zuschauern bestätigt, die im Parkett zwei Meter neben der Tontechnik saßen. Da es sich um eine Folgevorstellung handelte, frage ich mich, ob die Voreinstellungen im Mischpult von der Uraufführung zehn Tage zuvor nicht wiedergefunden werden konnten oder was sonst der Grund hierfür gewesen ist. Man kann nur hoffen, dass dieses Manko für die weiteren Vorstellungen endgültig abgestellt wird. Vom ersten und zweiten Rang ist auch der hintere als Leinwand fungierende Bühnenprospekt nicht vollständig zu sehen, weshalb man für die Zuschauer im ersten und zweiten Rang eine zusätzliche kleine Leinwand oberhalb des Bühnenportals angebracht hat. Das Videosignal für diese Leinwand hat jedoch gegenüber demjenigen für die Bühne eine deutlich sichtbare Verzögerung, so dass die Lippenbewegungen von Anna Thalbach überhaupt nicht mehr zum Ton passen. Es stimmt zwar, dass der Ton in der letzten Reihe im zweiten Rang später zu hören ist als in der ersten Reihe im Parkett, Schall breitet sich in Luft bei 20 °C mit 343 m/s aus, aber falls dies der Grund für die Verzögerung sein sollte, so hat man mit der Laufzeitleitung weder ins Schwarze noch ins Königsblaue getroffen.

„Kennst du den Mythos…?“, Giuseppe ‪‎Todaro, Fatoumata Camara, Violetta Kromer, Katja Morozova, Jouana Samia Wehbi; © Pedro Malinowski

Glücklicherweise konnten die Tonprobleme im Verlauf der ersten Teil gemildert werden, so dass später Ernst Kuzorras lapidare Aussage zum Gewinn der deutschen Meisterschaft 1934 durch seinen 2:1 Siegtreffer gegen den 1. FC Nürnberg zumindest zu verstehen war: „Ich wusste nicht, wohin mit dem Ball, da hab’ ich ihn einfach reingewichst“. Schon bald darauf die erste Schlappe für die Schalke Fans, die an diesem Abend mit Fan Kutte ins Theater gekommen sind und sich vorab mit weißen und blauen Knicklichtern eingedeckt haben: Das nicht Schalke-affine Theaterpublikum solidarisiert sich bei „Steht auf, wenn Ihr Schalker seid“ nicht mit den Fans und bleibt auf seinen Plätzen sitzen. Ob der Grund hierfür – wie anderweitig vermutet – tatsächlich bei den geladenen Gästen von Straßen.NRW zu suchen ist, möchte ich stark bezweifeln. Ich habe mir sagen lassen, dass Inhaber des Premieren-Abos am MiR die Veltins-Arena sogar zum Teil zur Pause verlassen haben. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass sich Schalke Fans ohne Theaterambitionen und „klassische“ Theaterbesucher, die so rein gar nichts mit Fußball am Hut haben, auch mit einer solchen Veranstaltung nicht so einfach miteinander versöhnen lassen, die Kluft zwischen beiden „Welten“ ist einfach riesig. Schalke Fans äußerten sich nach der Veranstaltung in der Veltins-Arena in sozialen Netzwerken dahingehend, dass viel zu wenig Schalker Liedgut aufgegriffen werde und es dementsprechend nicht genügend Möglichkeit zum Mitsingen gebe. Weiterhin vermissen mutmaßlich jüngere Schalke Anhänger die jüngere Vereinsgeschichte, mit der sie sich selbst identifizieren, die chronologische Abfolge der thematisierten Ereignisse aus der Vereinsgeschichte endet mit dem dramatischen Bundesliga-Finale am 19. Mai 2001, als FC Schalke 04 „Meister der Herzen“ wurde, der FC Bayern München dagegen Deutscher Meister. Henrik Wager thematisiert das Ereignis in seinem Song „Schwarzer Samstag“. Man kann es eben nicht allen recht machen…

„Kennst du den Mythos…?“, Petra Schmidt, Heribert Feckler (ML); © Pedro Malinowski

Dieter Falk und Heribert Feckler haben eine abwechslungsreiche Partitur geschaffen, die mit Tangorhythmen und Anklängen an Kurt Weill aus den 1920er Jahren über Schlagerballaden, Rock, Pop und Rap an den jeweiligen Zeitgeschmack angepasst ist. Einigen Songs kann man Ohrwurmpotential nicht absprechen, so gerät beispielweise Bonita Niessens Song „Stan“ zu einem musikalischen Highlight des Abends, in dem sie Spielerlegende Reinhard „Stan“ Libuda ein musikalisches Denkmal setzt. Der bereits erwähnte Sprechgesang „Aufstehen, immer wieder aufstehen“, in der Giuseppe Todaro das Steigerlied in eine moderne, auf den FC Schalke 04 gemünzte Rap-Version Rap-Version übersetzt, kommt beim Publikum ebenso gut an wie die von Lars-Oliver Rühl interpretierte Pop-Ballade „Solange ich lebe“, in der die Identifikation der Fans mit ihrem Verein zum Ausdruck gebracht wird. Neben der Vereinsgeschichte thematisiert „Kennst du den Mythos…?“ auch die Geschichte der Ruhrregion mit ihren Zechen und den Menschen, die sich dort für ihre Existenz abgearbeitet haben. Just in dem Jahr, als die „Eurofighter“ sich im Rückspiel gegen Inter Mailand am 21. Mai 1997 im Elfmeterschießen den UEFA-Pokal sichern konnten, wurde bundesweit der stufenweise Ausstieg aus der subventionierten Kohleförderung beschlossen.

Die Macher haben eine kurzweilige etwa zweieinhalbstündige Show mit unterschiedlichsten Musikgenres zusammengestellt, die für jeden etwas zu bieten hat, Jan Peter hat dazu bewegende Bilder geschaffen, Solisten, Chöre, Musiker, alle geben ihr Bestes, dementsprechend gab es auch lang anhaltenden Stehapplaus für die Beteiligten auf der Bühne. „Kennst du den Mythos…?“ steht noch bis 3. Januar 2016 auf dem Spielplan.

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