Musiktheater im Revier: „Anatevka“

„Anatevka“ – nach dem jiddischen Roman „Tewje, der Milchmann“ von Scholem Alejchem; Musik: Jerry Bock; Liedtexte: Sheldon Harnick; Buch: Joseph Stein; Deutsche Bearbeitung: Rolf Merz, Gerhard Hagen; Regie: Peter Hailer; Choreografie: Kati Farkas; Bühne: Etienne Pluss; Kostüme: Uta Meenen; Musikalische Leitung: Bernhard Stengel. Darsteller: Joachim Gabriel Maaß (Tevje, ein Milchmann), Lena Stolze (Golde, seine Frau), Judith Jakob (Zeitel), Filipina Henoch (Hodel), Dorin Rahardja (Chava), Luisa Poose/Laetitia Stengel (Shprintze), Marina Akcay/Ela Nur Özdemir (Bielke), Christa Platzer (Jente, eine Heiratsvermittlerin), E. Mark Murphy (Mottel Kamzoil, ein Schneider), Patricia Pallmer (Schandel, seine Mutter), Navíd Akhavan (Perchik, ein Student), Thomas Weber-Schallauer (Lazar Wolf, ein Metzger), Sabina Detmer (Lazar Wolfs Haushälterin), Wolf-Rüdiger Klimm (Motschach, ein Gastwirt), Dieter Salje (Rabbi), Vasilios Manis (Mendel, sein Sohn), Oliver Aigner (Awram, ein Buchhändler), Norbert Labatzki (Nachum, ein Bettler / Klezmer-Klarinette), Judith Jakob (Oma Zeitel, Goldes verstorbene Großmutter), Birgit Brusselmanns (Fruma-Sara, Lazar Wolfs erste Frau), Norman Warmuth (Wachtmeister), Andreas Schneider (Fedja, ein junger Russe), Alexander Poetsch (Sasha, sein Freund), Jan Ciesielski (Russischer Vorsänger), Takashi Bernhöft (Solo-Violine), Wiltrud Maria Gödde (Rifka), Ricardo Feldmann, Matthias Günzel (Heiratskandidaten). Broadway-Premiere: 22. September 1964, Imperial Theatre, New York City. Deutsche Erstaufführung: 1. Februar 1968, Operettenhaus, Hamburg. Premiere: 17. Dezember 2010, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen.



„Anatevka“


Wiederaufnahme am Musiktheater im Revier


Ensemble, Foto: Pedro Malinowski

Tradition ist das Zauberwort in Anatevka, einem kleinen jüdischen Dorf in der Ukraine. Der gutherzige Milchmann Tevje ist stolzer wie geplagter Vater von fünf Töchtern, die unter die Haube zu bekommen sind. Doch die eigenwilligen Heiratspläne seiner erwachsenen Töchter bringen sein festgefügtes Weltbild voller traditioneller Familienwerte, nach der der Vater den heiratsvermittelten Männern den Zuschlag gibt, mächtig ins Wanken. Seine älteste Tochter Zeitel hat sich mit dem armen Schneider Mottel Kamzoil verlobt, Hodel, die zweitälteste Tochter, verliebt sich in den Studenten Perchik, und Chava, die drittälteste Tochter, möchte gar den nicht-jüdischen jungen Russen Fedja heiraten. Das sorgt für rege familiäre und dörfliche Turbulenzen. Doch dann kommt der Befehl des Zaren, dass die Juden Anatevka innerhalb von drei Tagen verlassen müssen…

Christa Platzer (Jente) und Lena Stolze (Golde), Foto: Pedro Malinowski

Im Gewand jüdischer und russischer Volksklänge, Klezmermusik und einem unverwechselbaren Broadway-Sound – die typische Broadway-Nummer „Now I have everything“/„Nun hab´ ich, was ich will“ wurde allerdings erst später zur Partitur hinzugefügt – erzählen Jerry Bock und Joseph Stein in „Anatevka“ (Originaltitel „Fiddler on the Roof“) eine große jiddische Familiensaga in unsteter Zeit am Ende des Zarenreichs und kurz vor der Revolution 1905. Die Uraufführung von „Fiddler on the Roof“ fand am 22. September 1964 am Imperial Theatre in New York statt, Zero Mostel spielte die Rolle des Milchmanns Tevje. 1965 wurde das Stück für 10 Tony Awards nominiert, wovon es 9 Auszeichnungen tatsächlich gewonnen hat. Es wurde bis 2. Juli 1972 in 3.242 Aufführungen gezeigt, und erreichte damit als erstes Broadway-Musical mehr als 3.000 Vorstellungen, wofür Harold Prince als Produzent 1972 mit einem Special Tony Award für die bis dahin längste Laufzeit in der Broadway Geschichte ausgezeichnet wurde. Bis heute wurde es allein am Broadway viermal wiederaufgenommen. Am Musiktheater im Revier feierte die Inszenierung von Peter Hailer am 17. Dezember 2010 ihre Premiere und wurde dort bis 18. Juni 2011 in 20 Vorstellungen gezeigt. Am 23. Februar 2013 wurde die Inszenierung wiederaufgenommen und steht nochmals an insgesamt 6 Terminen bis 21. April 2013 auf dem Spielplan.

Mottel Kamzoil, Tevjes Familie und Perchik beim Sabbat-Gebet,
Foto: Pedro Malinowski

„Never change a winning team.“ Diesen berühmten Ausspruch von Sir Alf Ramsey, englischer Fußballspieler und Trainer, hat auch das Musiktheater im Revier beherzigt und „Anatevka“ mit nur einer klitzekleinen Änderung in den Hauptrollen wieder­auf­genommen: Sopranistin Dorin Rahardja, die bei der Premiere im Dezember 2010 noch zum Jungen Ensemble am MiR gehörte und sich die Rolle der Chava mit Jana Stelley geteilt hat, wurde mit dieser Spielzeit als feste Solistin in das Ensemble des MiR aufgenommen und spielt bei der Wiederaufnahme alle Vorstellungen. Auch das neue Ballett im Revier unter der Leitung der neuen Ballettdirektorin Bridget Breiner wurde problemlos in das stimmige Ensemble von „Anatevka“ aus Opern­sängern, Opernchor des MiR und Gästen integriert. Hier wirkt nichts künstlich aufgesetzt, auch die Choreografien von Kati Farkas fügen sich mit traditionellen Elementen homogen in den Handlungsablauf. Bassist Joachim Gabriel Maaß ist und bleibt der Sympathie­träger des Publikums in dieser Produktion, glaubhaft und mit der nötigen Prise Humor versehen verkörpert er den Vater mit traditionellen Familienwerten, der sich von den Heiratsplänen seinen beiden ältesten Töchtern zwar noch überzeugen lässt, dem die Heirat seiner drittältesten Tochter mit einem nicht-jüdischen jungen Russen bei aller Liebe dann aber doch zu weit geht. Als seine seit mehr als 25 Jahren treusorgende Ehefrau Golde ist Lena Stolze zu sehen, die dem ein oder anderen in der Rolle der Sophie Scholl in den beiden Filmen „Die weiße Rose“ (1982, Regie Michael Verhoeven, Tipp: 25. Februar 2013, 0.35 Uhr, ARD) und „Fünf letzte Tage“ (1982, Regie Percy Adlon) sowie Sonja in „Das schreckliche Mädchen“ (1990, Regie Michael Verhoeven) etwas sagen dürfte, für die sie jeweils mit dem Bundes­film­preis ausgezeichnet wurde. Die Ehe von Tevje und Golde wurde traditionell von einer Heiratsvermittlerin gestiftet, und Lena Stolze verleiht der in Traditionen verhafteten Ehefrau überzeugend Gestalt, erst nach Jahrzehnten fragen sich die Eheleute zum ersten Mal „Ist es Liebe?“ Die Töchter Zeitel, Hodel und Chava sind bei den beiden Musical-Darstellerinnen Judith Jakob und Filipina Henoch sowie Dorin Rahardja – mit klassischer Musiktheater-Ausbildung an der Folkwang Universität der Künste – sowohl gesanglich als auch darstellerisch in guten Händen, alle drei harmonieren in dem Song „Jente, o Jente“ sehr gut miteinander.

Filipina Henoch (Hodel) und Navid Akhavan (Perchik),
Foto: Pedro Malinowski

Daneben sind der kanadische Tenor E. Mark Murphy als armer Schneider Mottel Kamzoil, der deutsch-iranische Schauspieler Navíd Akhavan als Student Perchik mit revolutionären Ideen, der aus Oberösterreich stammende Schauspieler Thomas Weber-Schallauer als Metzger Lazar Wolf und Christa Platzer als Heiratsvermittlerin Jente zu erwähnen, Musical-Darsteller Andreas Schneider ist mit der Rolle des jungen Russen Fedja gänzlich unterfordert. Herausragend Klezmer-Klarinettist Norbert Labatzki (Klezmerensemble „Badeken di Kallah“), der als Bettler Nachum auf der Bühne steht und bei der Hochzeit von Zeitel und Mottel Kamzoil zur Hora – einem traditionellen Reigen – das Klarinetten-Solo spielt, beeindruckend vom Ballett im Revier mit dem „Flaschentanz“ umgesetzt, einem alten Brauch der jemenitischen Juden, der als Wettbewerb bei festlichen Anlässen aufgeführt wird.

Judith Jakob (Zeitel) und E. Mark Murphy (Mottel Kamzoil), Ensemble
Foto: Pedro Malinowski

Regisseur Peter Hailer erzählt die Geschichte von Tevje, dem einfachen Milchmann, seiner Frau Golde und den fünf Töchtern als Familiengeschichte, in der die erwachsenen Töchter das Haus verlassen und nur glücklich werden können, wenn ihnen der Vater entgegen alter Traditionen den Weg in die Unabhängigkeit erlaubt. Die Vertreibung der Juden aufgrund des von Zar Alexander III. (von 1881 bis 1894 Kaiser von Russland) in den so genannten Maigesetzen (im Mai 1882 offiziell als „zeitlich begrenzte Verordnungen“ als Reaktion auf die Pogrome in Kraft gesetzt) festgelegten Aufenthaltsverbots in Ortschaften mit weniger als 10.000 Einwohnern erscheint hier eher wie ein Abschied von liebgewonnenen jüdischen Traditionen als ein Aufbruch in eine neue Welt. Trotz dieser eher bedrückenden Sichtweise bleibt die Familie am Ende erhalten, auch seiner Tochter Chava, die er nach der Hochzeit mit dem nicht-jüdischen jungen Russen Fedja verstoßen hat, gibt Tevje schließlich leise seinen Segen. Das Bühnenbild von Etienne Pluss wird dominiert von einer elektrischen Straßenlaterne, die es in einem Schtetl in der Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl nicht gegeben hat, (Der GOELRO-Plan der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands wurde am 21. November 1920 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Wladimir Iljitsch Lenin trieb die Elektrifizierung voran, daher rührt der Begriff „Iljitschs Lämpchen“ für die Glühlampe.) die aber den Schauplatz der Handlung sehr schön verdeutlicht, wozu auf Rollen fahrbare Holzhütten kommen, die den bescheidenen Lebensstil der jüdischen Bevölkerung unterstreichen. Ein mit Wolken bemaltes, farbig beleuchtetes Rollo als Hintergrundprospekt sorgt für stimmungsvolle Szenarien.

Joachim Gabriel Maaß (Tevje) und Lena Stolze (Golde),
Foto: Pedro Malinowski

Mit „Anatevka“ ist dem Musiktheater im Revier überzeugende Unterhaltung an der Grenze zwischen Schauspiel und Musical gelungen, die auch bei gut dreistündiger Aufführungsdauer nie langatmig wirkt. Wer die Produktion noch nicht gesehen hat oder womöglich nochmals anschauen möchte, sollte die Gelegenheit nutzen. Weitere Aufführungen am 2., 10., 16., 30. März und 21. April 2013 (zum letzten Mal).

Ensemble, Foto: Pedro Malinowski

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