Theater Oberhausen: „Woyzeck“

„Woyzeck“ – nach dem gleichnamigen Dramenfragment von Georg Büchner; Musik und Liedtexte: Tom Waits und Kathleen Brennan; Konzept: Robert Wilson; Textfassung: Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens; Inszenierung: Joan Anton Rechi; Bühne: Alfons Flores; Kostüme: Moritz Junge; Dramaturgie: Tilman Raabke; Musikalische Leitung und Arrangements: Otto Beatus. Darsteller: Jürgen Sarkiss (Franz Woyzeck), Nora Buzalka (Marie), Michael Witte (Hauptmann), Henry Meyer (Doktor), Peter Waros (Tambourmajor), Klaus Zwick (Andres), Susanne Burkhard (Margreth), Anja Schweitzer (Ausruferin/Narr). Band: Otto Beatus (Klavier), Dietrich Geese (Trompete, Flügelhorn, Sousaphon, Akkordeon), Jan Klare (Querflöte, B-Klarinette, Bass-Klarinette, Sopransaxophon, Baritonsaxophon), Jan Sebastian Weichsel (Mandoline, E-Geige, Viola, E-Gitarre, Akustik-Gitarre, Kontrabass), Volker Kamp (Posaune, E-Gitarre, Akustik-Gitarre, Kontrabass), Matthias Haus (Marimbaphon, Schlagwerk). Uraufführung: 18. November 2000, Betty Nansen Theater, Kopenhagen. Deutschsprachige Erstaufführung: 19. September 2008, Theater Oberhausen.



„Woyzeck“


Die 50. Vorstellung des „art musical“ am Theater Oberhausen


Als Georg Büchner (* 17. Oktober 1813 in Goddelau, † 19. Februar 1837 in Zürich) im Alter von 23 Jahren an den Folgen einer Typhus Erkrankung verstarb, blieb sein in Straßburg begonnenes Werk „Woyzeck“ ein Fragment. Der österreichische Schriftsteller und Publizist Karl Emil Franzos veröffentlichte das Fragment 1878 zum ersten Mal vollständig in der Berliner Wochenschrift „Mehr Licht! Eine deutsche Wochenschrift für Literatur und Kunst“, nachdem er das verblasste und daher weitgehend unleserliche Manuskript zuvor in chemischer Behandlung wieder lesbar gemacht hatte. Am 8. November 1913 kam das Drama im Residenztheater München erstmals auf die Bühne und zählt heute zu den meistgespielten Dramen der deutschen Literatur. Alban Berg schuf auf Grundlage des Fragments seine Oper „Wozzeck“, die am 14. Dezember 1925 an der Berliner Staatsoper zur Uraufführung kam. Avantgarde-Regisseur Robert Wilson und Songschreiber Tom Waits, die bereits bei „The Black Rider“ (Uraufführung 31. März 1990, Thalia Theater Hamburg) und „Alice“ (Uraufführung 19. Dezember 1992, Thalia Theater Hamburg) erfolgreich zusammengearbeitet hatten, brachten am 18. November 2000 ihre Fassung des Stoffes als Uraufführung auf die Bühne des Betty Nansen Theaters in Kopenhagen. Tom Waits hat zusammen mit seiner Frau, der Songtexterin Kathleen Brennan, die Songs geschrieben, die auch auf dem Album „Blood Money“ veröffentlicht wurden. Seither war das Stück für andere Regisseure gesperrt, dem Theater Oberhausen ist es in der Vorbereitung für die erste Spielzeit des designierten Intendanten Peter Carp gelungen, die Rechte von Tom Waits zu bekommen, so dass mit der Neuinszenierung von Joan Anton Rechi am 19. September 2008 die neue Intendanz von Peter Carp eröffnet werden konnte. Am 30. und 31. Oktober 2012 kehrte die lange nicht mehr gespielte Inszenierung auf die Bühne des Theaters Oberhausen zurück und konnte seine 50. Vorstellung feiern.

Theater Oberhausen

„Woyzeck“ ist die Geschichte des armen Soldaten Franz Woyzeck, der trotz täglicher Demütigungen zu überleben versucht. Um seine Geliebte Marie und ihren gemeinsamen kleinen Sohn zu unterstützen, verrichtet er niedere Arbeiten für den Hauptmann und stellt sich einem skrupellosen Doktor für wissenschaftliche Experimente zur Verfügung. Von beiden wird er unterdrückt und öffentlich gedemütigt. Sein Glaube an die Gerechtigkeit im Leben wird erschüttert, als er erfährt, dass sich Marie mit dem feurigen Tambourmajor eingelassen hat. Nachdem er die beiden im Wirtshaus beim Tanzen beobachtet hat, glaubt er, innere Stimmen zu hören, die ihm befehlen, die untreue Marie zu töten. Nachdem er im Zweikampf dem Tambourmajor unterlegen ist, schneidet Woyzeck im nahegelegenen Wald Marie die Kehle durch. Tom Waits selbst hat das Werk folgendermaßen beschrieben: „Woyzeck handelt von Wahnsinn und von Obsessionen, von Kindern und von Mord – alles Dinge, die uns berühren. Das Stück ist wild und grell und spannend und fantasieanregend. Es bringt einen dazu, Angst um die Figuren zu bekommen und über das eigene Leben nachzudenken. Ich schätze mal, mehr kann man von einem Stück nicht verlangen.“ Den Soldaten Woyzeck hat es wirklich gegeben. Johann Christian Woyzeck wurde am 3. Januar 1780 in Leipzig geboren. Nach Wanderjahren diente er während der Napoleonischen Kriege als Soldat in verschiedenen Armeen, während seiner Zeit bei den mecklenburgischen Truppen hat er zusammen mit einem Mädchen in Stralsund ein uneheliches Kind. Schließlich wurde er armselig aus dem Heeresdienst entlassen und kehrte 1818 in seine Geburtsstadt zurück. Die Witwe Johanna Christiane Woost, Stieftochter seines letzten Lehrherrn, ließ sich auf ein Verhältnis mit Woyzeck ein, hatte aber gleichzeitig freizügigen Umgang mit verschiedenen Soldaten. Es gab Streit, wobei Woyzeck seine Geliebte aus Eifersucht misshandelte und schließlich am 2. Juni 1821 erstach. Der Fall wurde durch zahlreiche medizinische Gutachten berühmt, die im Zuge der Gerichtsverhandlung erstellt wurden und die Georg Büchner als junger Medizinstudent in der Bibliothek seines Vaters las. Darin ging es um die Frage der Zurechnungsfähigkeit, die der Mediziner Johann Christian August Clarus trotz zahlreicher Hinweise auf Woyzecks krankhaften Gemütszustand bestätigte. Am 27. August 1824 wurde Johann Christian Woyzeck öffentlich hingerichtet.

Michael Witte, Henry Meyer, Klaus Zwick, Anja Schweitzer, Susanne Burkhard, Peter Waros, Jürgen Sarkiss und Nora Buzalka
Foto Tanja Dorendorf

Das vom Theater Oberhausen als „Opera nach Georg Büchner“ bezeichnete Werk lässt sich nur schwer einem Genre zuordnen, Tom Waits hat es selbst als „art musical“ bezeichnet. Die Inszenierung von Joan Anton Rechi, den eine enge künstlerische Zusammenarbeit mit Calixto Bieito verbindet, in der Textfassung von Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens fußt auf dem Drama in Georg Büchners Stil, in das die Songs von Tom Waits mit ihren typischen schrägen Harmonien und Rhythmen integriert sind. Man könnte auch ohne weiteres von einem Schauspiel mit Musik sprechen. Die einzelnen Szenen wirken wie Momentaufnahmen einer verrückten Gesellschaft, wobei die Songs die Stimmung aufgreifen und noch steigern. Das Bühnenbild von Alfons Flores besteht aus einem zweigeschossigen Gebäude, das auf der Drehbühne in verschiedene Positionen gebracht werden kann und dem Zuschauer durch semitransparente Gaze bei entsprechender Beleuchtung mannigfaltige Einblicke erlaubt. SEXNESSE steht in Grobuchstaben an der Fassade, zusammen mit den kühlen Neonröhren und den Graffiti an den seitlichen Bühnenwänden erinnert das Ganze an den amerikanischen Maler Edward Hopper, der in seinen Bildern auf die Einsamkeit des modernen Menschen hinweisen möchte. Die Band unter der Musikalischen Leitung von Otto Beatus ist in das Bühnenbild integriert und bringt die von dissonanten, aggressiven Nummern bis zu harmonischen Balladen reichende Partitur auf der mit Lichterketten versehenen Dachterrasse gekonnt zu Gehör. Die Ausruferin verleiht schon im ersten Song „Misery is the river of the world“ der Hoffnungslosigkeit Ausdruck, die Songzeilen „If there´s one thing you can say about mankind, there´s nothing kind about man. You can drive out nature with a pitch fork, but it always comes roaring back again.“ geben das Thema des Abends vor. Hier geht alles zur Hölle, wie es Marie mit ihrem Song „Everything goes to hell“ auf den Punkt bringt.

Susanne Burkhard, Michael Witte, Henry Meyer, Nora Buzalka, Peter Waros und Jürgen Sarkiss; Foto Tanja Dorendorf

Auch die musikalische Adaption des Dramenfragments begünstigt das Schauspiel, folgerichtig sind alle Rolle mit Schauspielern besetzt. Jürgen Sarkiss, mit dem Publikumspreis als beliebtester Schauspieler beim Oberhausener Theaterpreis 2012 ausgezeichnet, spielt den armen Soldaten Franz Woyzeck, der unter krankhaften Depressionen und epileptischen Anfällen leidet. Nach und nach wird seine Krankheit immer deutlicher. Er hört nicht nur Stimmen, die ihm befehlen, Marie zu töten, in seinen Wahnvorstellungen vollführen die übrigen Darsteller zum Instrumentaltitel „Knife Chase“ einen dämonischen Maskentanz. Nora Buzalka spielt Woyzecks Geliebte Marie als bodenständiges Mädchen aus bürgerlichem Hause, das sich fürsorglich um das gemeinsame Kind kümmert, doch angesichts Woyzecks Gemütszustandes ist es nur zu verständlich, dass sie sich vom Tambourmajor Peter Waros angezogen fühlt, der auf einem Geländemotorrad auf die Bühne gefahren kommt und auch mit seinem Habitus bei ihr punkten kann. Henry Meyer hustet sich als Doktor die Lunge aus dem Leib, da liegen Assoziationen an den Komponisten nahe. Sein überzeugender Auftritt mit „God´s away on business“ ist entsprechend aufwändig in Szene gesetzt, für ihn ist Woyzeck ein „interessanter casus“. Susanne Burkhard, die für ihrer Rollen in „Traumnovelle“, „Der Sturm“ und „Face-Book“ beim Oberhausener Theaterpreis 2012 von der Jury mit dem dritten Preis ausgezeichnet wurde, hat als Margreth mit der Ballade „It´s over“ (aus dem Soundtrack zu „Liberty Hights“ (1999) von Barry Levinson) ihre bewegenste Nummer, wenn sie mit schwarzer Lingerie bekleidet auf einer von Glühbirnen umrahmten, spärlich beleuchteten Bühne auftritt, während sich Marie im Obergeschoss mit dem Tambourmajor vergnügt.

Klaus Zwick, Anja Schweitzer, Susanne Burkhard, Michael Witte, Henry Meyer, Peter Waros, Nora Buzalka und Jürgen Sarkiss
Foto Tanja Dorendorf

„Woyzeck“ ist anders … ganz anders als die in der Neuen Mitte Oberhausen gespielten Musicals. Wer es noch nicht gesehen hat, sollte die Gelegenheit nutzen und sich die Aufführung am Theater Oberhausen ansehen. Weitere Aufführungstermine sind allerdings augenblicklich nicht bekannt, immerhin war es bereits die 50. Vorstellung seit der Premiere vor gut vier Jahren. Da Georg Büchners „Woyzeck“ im Abiturjahrgang aber zur Pflichtlektüre zählt, besteht durchaus Hoffnung auf weitere Vorstellungen, die 50. Vorstellung war auch von dementsprechend vielen Schülern besucht.

Kommentare