„Die Show ihres Lebens“

„Die Show ihres Lebens“ – nach der Biografie von Daisy und Violet Hilton; Musik: Henry Krieger; Buch, Lyrics: Bill Russel; Deutsche Bearbeitung: Christian Grundlach; Inszenierung: Craig Simmons; Choreografie: Jacqueline Dunnley-Wendt; Musikalische Leitung: Leif Klinkhardt; Bühne und Kostüme: Manfred Breitenfellner. Darsteller: Navina Heyne (Daisy Hilton), Regine Sturm (Violet Hilton), Frank Brunet (Terry Connor), Jens Plewinski (Buddy Foster), Jonas Hein (Jake), Jens Krause (Der Boss), Sebastian Strehler (Feiner Pinkel u. a.), Michaela Linck (Wahrsagerin/Archäologin), Agnes Buliga-Contras (Frau mit Vollbart u. a.), Tim Müller (Reptilienmann, Reporter u. a.), Atsushi Okumura (6. Attraktion u. a.), Stephan Freiberger (Fakir, Tod Browning u. a.), Julia Riemer (Schlangenfrau u. a.), Alexandra Söchtig (Dolly Dimples u. a.), Wojciech Mastalerz, Jesper Mikkelsen, Harald Strawe (Aufbauhelfer, Reporter u. a.), Annika Dickel, Tanja Krauth, Magdalene Orzol (Haremsdamen, Archäologen, Vale Sisters u. a.). Uraufführung: 16. Oktober 1997, Richard Rodgers Theatre, New York City. Deutschsprachige Erstaufführung: 11. Februar 2012, Theater für Niedersachsen, Großes Haus Hildesheim.



„Die Show ihres Lebens“


Die Lebensgeschichte von Daisy und Violet Hilton als bewegendes Musical


Theater für Niedersachsen, Großes Haus Hildesheim

„Die Show ihres Lebens“ basiert auf der Biografie der beiden siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton (* 5. Februar 1908 in Brighton, England, † Anfang Januar 1969 in Charlotte, North Carolina), die zunächst – wie viele andere siamesische Zwillingspaare – als Jahrmarktsattraktion zur Schau gestellt wurden und in den 1930er Jahren während der „Großen Depression“ als Vaudeville-Stars Berühmtheit erlangten. Der Originaltitel des Musicals – „Side Show“ – greift diesen Umstand auf, Sideshow bezeichnet in der amerikanischen Unterhaltungskultur ein spektakuläres Beiprogramm von Zirkus- oder Jahrmarktsveranstaltungen.

Die „Freak Show“, Ensemble, Foto: Andreas Hartmann

Das Musical von Henry Krieger (Musik) und Bill Russel (Buch, Lyrics) feierte am 16. Oktober 1997 am Richard Rodgers Theatre seine Uraufführung, Alice Ripley und Emily Skinner spielten die Rollen von Violet und Daisy Hilton. Das Stück wurde trotz einiger positiver Kritiken bereits nach 31 Previews und 91 regulären Vorstellungen am 4. Januar 1998 abgesetzt. „Side Show“ wurde 1998 für vier Tony Awards nominiert, gewann jedoch keine Auszeichnung. Es war das erste und bisher einzige Mal, dass zwei Darstellerinnen gemeinsam als Beste Hauptdarstellerin nominiert wurden. Christian Grundlach, derzeitiger Direktor der MusicalCompany am Theater für Niedersachsen in Hildesheim, hat das Musical ins Deutsche übertragen. Am 11. Februar 2012 kam „Die Show ihres Lebens“ als deutschsprachige Erstaufführung in der Inszenierung von Craig Simmons am Theater für Niedersachsen (TfN) auf die Bühne. Die TfN MusicalCompany ging zur Spielzeit 2007/2008 mit dem Zusammenschluss der Landesbühne Hannover und dem Stadttheater Hildesheim zum Theater für Niedersachsen als festes Ensemble mit 14 Musicaldarstellern unter der Leitung von Hans-Christian Leonhard an den Start, seit der Spielzeit 2009/2010 wird sie von Christian Grundlach geleitet. In der Spielzeit 2012/13 wird Katja Buhl die Leitung übernehmen. Die TfN MusicalCompany ist die erste und bisher einzige Company an einem öffentlichen Theater, die im Repertoire-Betrieb kontinuierlich zusammenarbeitet und so das Musical-Repertoire um selten oder noch niemals in Deutschland gezeigte Musicals erweitern soll. Was ihr mit der europäischen Erstaufführung der „Side Show“ wieder einmal eindrucksvoll gelungen ist.

Jonas Hein (Jake), Navina Heyne (Daisy Hilton) und Regine Sturm (Violet Hilton)
Foto: Andreas Hartmann


Zum Inhalt:
Der Manager einer Sideshow, von allen nur der Boss genannt, stellt seine Hauptattraktion, die an den Hüften zusammengewachsenen Zwillinge Daisy und Violet, als Mitglieder einer so genannten „Freak Show“ vor. Buddy Foster, ein junger, ehrgeiziger Musiker, macht Terry Connor, Talentscout für „Orpheum Circuit“, einer Vaudeville-Theaterkette, auf die siamesischen Zwillinge aufmerksam, er ist davon überzeugt, ihnen Singen und Tanzen beibringen zu können. Zwei Wochen später kehrt Terry zurück, um sich die erfolgreich einstudierte Nummer der Zwillinge anzuschauen. Gegen den Widerstand des Sideshow-Managers verlassen Daisy und Violett zusammen mit Buddy, Terry und Jake, ihrem Freund und Beschützer, die Sideshow. Nach ihrem triumphalen Vaudeville Debut werden die Zwillinge von Buddy und Terry mit Küssen überhäuft, und impertinente Reporter erkundigen sich nach ihrem Liebesleben. Terry und Buddy dementieren jegliche romantische Zuneigung, was Daisy und Violet daran zweifeln lässt, ob sie jemals ihr privates Liebesglück finden werden. Auf dem Höhepunkt ihrer Vaudeville Karriere ist Daisys Traum vom Ruhm Realität geworden, doch Violet sehnt sich nach einem normalen Leben und privatem Glück. Auf einer Silvesterparty versucht Buddy, Violet aufzuheitern und macht ihr schließlich einen Heiratsantrag. Nachdem Buddy, Violet und Daisy euphorisch die Hochzeit bekannt gegeben haben, haben aber sowohl Buddy als auch Violet für sich ihre Zweifel, wie diese Abmachung funktionieren soll. Am Tag der Hochzeit bekommt Buddy kalte Füße und gesteht sich schließlich ein, dass er nicht stark genug ist, um mit den unvermeidlichen Konsequenzen der körperlichen Behinderung der Zwillinge umgehen zu können. Daisy schlägt als Lösung vor, dass Terry sie heiraten soll, doch dieser möchte seine Gefühle für Daisy nicht öffentlich zugeben. Mit der Erkenntnis der beiden Frauen, dass sie einzig einander selbst voll vertrauen können, endet das Musical.

Frank Brunet (Terry Connor), Navina Heyne (Daisy Hilton), Regine Sturm (Violet Hilton) und Jens Plewinski (Buddy Foster)
Foto: Andreas Hartmann


Tatsächlich fand am 18. Juli 1936 bei der „Texas Centennial Exposition“ im „Cotton Bowl“ in Dallas die arrangierte Hochzeit zwischen Violet Hilton und ihrem langjährigen Tanzpartner James Walker alias „Jim Moore“ als Großereignis statt. Daisy Hilton heiratete am 17. September 1941 den Tänzer Harold Estep alias „Buddy Sawyer“; die Ehe hielt jedoch nur zwei Wochen. Der im Musical angesprochene Horrorfilm „Freaks“ von Tod Browning mit Daisy und Violet Hilton ist bereits 1932, also lange vor der arrangierten Hochzeit, erschienen. Nach dem Niedergang des Vaudeville-Theaters versuchten die Zwillinge wie viele andere ihr Glück in Hollywood, 1950 spielten sie in „Chained for Life“ die Vaudeville-Sängerinnen Dorothy und Vivian Hamilton, der Film geriet aber zu einem veritablen Flop und die Hilton-Zwillinge gerieten in finanzielle Nöte. Ihre letzten Jahre verbrachten sie in Charlotte, North Carolina, wo sie bei Charles Reid in seinem Lebensmittelladen „Park-N-Shop“ arbeiteten. Zum Zeitpunkt ihres Todes besaßen Daisy und Violet nur noch etwa 1000 US-$.

Navina Heyne (Daisy Hilton) und Regine Sturm (Violet Hilton)
Foto: Andreas Hartmann


Zu Beginn der Inszenierung von Craig Simmons kommen die Darsteller „normal“ gekleidet auf die Bühne und setzen sich auf zwei als Tribüne fungierenden Treppenelemente nieder, so dass man sich bald fragt, wer hier eigentlich wen anschaut. Doch dann stellen sich die Figuren als „Freaks“ heraus, Menschen mit auffallenden körperlichen Verwachsungen, Angehörige exotischer Völker und siamesische Zwillinge. Wir befinden uns mitten in einer Sideshow, in der der Boss seine Attraktionen präsentiert. Jens Krause verleiht dem schmierigen Manager durch Gesang und Auftreten etwas Anrüchiges und Skrupelloses, von Anfang an ist klar, dass er nur seinen eigenen Vorteil sucht und sich weniger um das Wohlergehen seiner „Freaks“ sorgt. Andeutungsweise schreckt er auch nicht vor körperlicher Misshandlung zurück, um seinen Willen durchzusetzen. Die Hauptattraktion seiner Sideshow sind die siamesischen Zwillinge Daisy und Violet Hilton, die an Hüften und Gesäß zusammengewachsen sind und einen gemeinsamen Blutkreislauf teilen. Navina Heyne und Regine Sturm spielen die beiden nicht nur, man bekommt eher den Eindruck, sie seien tatsächlich an den Hüften zusammengewachsen. Lediglich das „Gespräch unter vier Augen“ („Private Conversation“) zwischen Daisy Hilton und Terry Connor im zweiten Akt bildet die einzige Ausnahme, bei der Daisy ohne ihre Zwillingsschwester in Terrys Fantasie zu sehen ist, in allen anderen Szenen agieren die beiden zusammen, und ihr Timing ist einfach perfekt. Und das nicht nur beim Gehen, sondern auch in den für das Vaudeville-Theater einstudierten Choreografien (Choreografie: Jacqueline Dunnley-Wendt). Auch gesanglich harmonieren Navina Heyne und Regine Sturm sehr gut miteinander, ihr Duett „Ich bleib immer bei dir“ („I will never leave you“) gegen Ende gerät zum emotionalen Höhepunkt der Show. Navina Heyne spielt die forschere Zwillingsschwester Daisy, die von Geld und Ruhm träumt, wohingegen Regine Sturm die eher zurückhaltende Violet verkörpert, die sich nach einem Ehemann und einem eigenen Heim sehnt, da bleiben glaubwürdige Streitereien auch zwischen siamesischen Zwillingen nicht aus: „Lass mich in Ruh´“ („Leave me alone“).

„Wir sind uns so nah“ („We share everything“)
Navina Heyne (Daisy Hilton), Regine Sturm (Violet Hilton) und Ensemble
Foto: Andreas Hartmann


Der in Siegen geborene Bariton Jonas Hein spielt als Afroamerikaner Jake zunächst den Kanibalen-König in der Sideshow, später den treuen Begleiter der Zwillinge und heimlichen Verehrer von Violet. Bei seinem swingenden Gospel „Die Hölle von heut´ kommt wie der Himmel Euch vor“ („The devil you know“) als Showstopper des ersten Aktes und seiner bewegenden Liebeserklärung „Du hast verdient, dass jemand dir nah ist“ („You should be loved“) begeistert er mit viel Soul in der Stimme. Die Maske hat bei ihm ganz hervorragende Arbeit geleistet. Daisy und Violet sind von seinen Argumenten, bei der Sideshow und der „Familie“ der Freaks zu bleiben, allerdings nicht so begeistert, sondern vertrauen schließlich eher den Argumenten von Terry Connor und Buddy Foster, die ihnen eine Vaudeville Karriere in Aussicht stellen. Jens Plewinski ist als junger Entertainer und Songschreiber Buddy Foster davon überzeugt, dass es die Zwillinge mit Gesangs- und Tanzunterricht von ihm im Vaudeville-Theater weit bringen können. Davon kann er schließlich auch den Talentsucher Terry Connor (gespielt von Frank Brunet) überzeugen. Beide hegen zwar auch Gefühle für die Zwillinge, und nicht nur Buddy verleiht diesen mit seinem Hochzeitsantrag an Violet Ausdruck, sondern auch Terry gibt seinen Gefühlen im „Tunnel der Nacht“ („Tunnel of love“) nach. Doch wenn es darum geht, zu seinen Gefühlen zu stehen, kneifen beide. Buddy gibt schließlich zu, dass seine Liebe nicht stark genug ist, und auch Terry muss am Ende einsehen, dass er doch bereit ist, andere zu seinem eigenen Vorteil zu benutzen.

Navina Heyne (Daisy Hilton) und Regine Sturm (Violet Hilton)
Foto: Andreas Hartmann


Das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Manfred Breitenfellner) kann über weite Teile eher als schlicht bezeichnet werden, häufig kommen die beiden fahrbaren, als Tribüne fungierenden Treppenelemente auf einer sonst leeren Bühne zum Einsatz, was den Blick der Zuschauer auf die dargestellten Personen und deren Emotionen fokussiert. Eine bewusste und gute Entscheidung, damit die auf der Bühne erzählte Geschichte nicht im Bombast untergeht. Aufwändiger und richtig bunt wird es dagegen bei der Vaudeville-Nummer „Wir sind uns so nah“ („We share everything“), bei der Daisy und Violet als „Achtes Weltwunder“ Ägypten bereisen, und zu Beginn des zweiten Aktes, wenn die Hilton-Zwillinge auf dem Höhepunkt ihres Bühnenerfolges in einer Art „Ziegfeld Follies“-Nummer in einem überdimensionalen Vogelkäfig zwischen glitzernden Vorhängen auf die Bühne herabschweben („Rare Songbirds on Display“). Die beinahe vollständig durchkomponierte Partitur von Henry Krieger („Dreamgirls“) verbindet zeitgemäß Mainstream-Pop mit klassischen Broadway-Elementen, nicht nur seine lyrischen Pop-Balladen, sondern auch fulminante Ensemblenummer können begeistern. Bei so einer Partitur kann natürlich auch das Orchester des TfN unter der Musikalischen Leitung von Leif Klinkhardt glänzen. „Die Show ihres Lebens“ dürfte womöglich kein massentauglicher Stoff für eine Großproduktion sein, aber das Musical steht am Theater für Niedersachen auch nur neun Mal auf dem Spielplan, und die Chance sollte man sich keinesfalls entgehen lassen. Die nächsten Aufführungen stehen am 16. und 18. Februar 2012 in Hildesheim und am 10. und 13. März 2012 im Theater am Aegi in Hannover auf dem Spielplan.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Ich habe das Stück jetzt zweimal gesehen und bin immer noch begeistert wie am ersten Tag. Weitere Besuche werden folgen. Dieses Musical ist ein echter Schatz und ich bin froh, dass es in meiner Stadt unter großem Erfolg spielt. Leute, kauft schnell Karten denn es ist schnell ausverkauft!!!
Detlef hat gesagt…
Wegen des anhaltenden Erfolges wird „Die Show ihres Lebens“ an sechs Zusatzterminen aufgeführt. Die zusätzlichen Shows gehen am 6. und 29. Mai, 15., 23. und 27. Juni sowie am 3. Juli 2012 am Großen Haus in Hildesheim über die Bühne.