FreilichtSpiele Tecklenburg: „West Side Story“

„West Side Story“ – nach einer Idee von Jerome Robbins und nach Shakespeares „Romeo and Julia“; Musik: Leonard Bernstein; Gesangstexte: Stephen Sondheim; Buch: Arthur Laurents; Deutsche Fassung: Frank Thannhäuser/Nico Rabenald; Regie: Helga Wolf; Choreographie: Doris Marlis; Fight Choreographie/Fight Captain: Kevin Foster; Bühne: Susanna Buller; Kostüme: Karin Alberti; Maske: Stefan Becks; Musikalischer Leiter: Tjaard Kirsch. Darsteller: Leah Delos Santos (Maria), Lucius Wolter (Tony), Sigrid Brandstetter (Anita), Lars Kemter (Riff), Gianni Meurer (Bernardo), Jana Stelley (Anybodys), Hannes Demming (Doc), Michael Micheiloff (Lt. Schrank), Stefan Poslovski (Officer Krupke), Michael Schüler (Glad Hand); Jets: Martin Kiuntke (Action), Stephan Luethy (Baby John), Tom Schimon, Hakan T. Aslan, Andrew Hill, Harald Tauber, Phillipp Georgopoulos, Nils Haberstroh, Kristian Lucas, Anke Merz, Juliane Bischoff, Silja Schenk, Marthe Römer, Sophie Blümel, Esther Lach, Jessica Krüger; Sharks: Silvano Marraffa (Chino), Daniel Ruiz, Kevin Foster, Julian Sylva, Marius Hatt, Jan Altenbockum, Jörn Ortmann, Raphaela Groß-Fengels, Angela Hunkeler, Michelle Escaño, Janina Keppel, Rachel Colley, Rebecca Stahlhut, Laura Fernandez. Uraufführung: 26. September 1957, Winter Garden Theatre, New York. Deutschsprachige Erstaufführung: 25. Februar 1968, Volksoper, Wien. Premiere: 23. Juli 2010, Freilichtbühne Tecklenburg.



„West Side Story“


Open-Air-Produktion der FreilichtSpiele Tecklenburg


Die „West Side Story“, eines der größten Werke des amerikanischen Musiktheaters, behandelt am Beispiel zweier rivalisierender Banden die Schwierigkeiten und Gegensätze zwischen den eingewanderten Puertoricanern (Sharks) und den Einheimischen der New Yorker West Side (Jets) um 1955. Das Stück wurde 1961 verfilmt; der Film wurde für elf Oscars nominiert, wovon er immerhin zehn tatsächlich erhalten hat. Die rivalisierenden oder besser gesagt konkurrierenden Parteien mag man vielleicht auch bei den Sommerfestspielen wiedererkennen: Elke Hesse stellte die „West Side Story“ im letzten Jahr ihrer Intendanz bei den Bad Hersfelder Festspielen 2009 mit Leah Delos Santos (Maria) und Christian Alexander Müller (Tony) erfolgreich auf die Bühne der Stiftsruine, Radulf Beulecke hat sich als Intendant der Freilichtspiele Tecklenburg die Aufführungsrechte für 2010 gesichert und konnte gleichzeitig – aus allgemein bekannten Gründen – Leah Delos Santos als Maria verpflichten. Bei der Wiederaufnahme in Bad Hersfeld in diesem Jahr spielt Katharina Schrade die Maria.

Lars Kemter (Riff)

Lucius Wolter (Tony)

Bei der „West Side Story“ verschmelzen Musik, Schauspiel und Tanz in nahezu unübertrefflicher Form, und die in der von Robert E. Griffith und Harold S. Prince produzierten Uraufführung von Jerome Robbins choreographierten Tanzsequenzen gerieten zum beinahe wichtigsten Stilmittel. Robbins erarbeitete mit jedem Tänzer ein individuelles Repertoire an Gesten und schuf damit ein stilisiertes Tanztheater, das die bedrohlichen Auseinandersetzungen der Jugendlichen überzeugender auf die Bühne brachte als jede realistische Darstellung. Für eine darart auf Tanz zugeschnittene Show ist die Tecklenburger Freilichtbühne aber sicherlich kein gutes Pflaster: Der harte Steinboden stellt erhebliche Anforderungen an die Tänzer, belastet Sehnen und Bänder, langfristig ist es sogar gefährlich, auf einem harten Boden zu tanzen. Diesem Umstand dürfte auch die Choreografie von Doris Marlis geschuldet sein, die in der von mir besuchten ersten Vorstellung nach der Premiere teilweise nicht ganz synchron umgesetzt wurde.

Sigrid Brandstetter (Anita)

Lucius Wolter (Tony)

Ohne hier die Leistung der Darsteller schmälern zu wollen, aber die Gewichtung zwischen den beiden in diesem Sommer in Tecklenburg aufgeführten Musicals zugunsten der „3 Musketiere“ anhand der Darstellerriege ist schon auffällig. Hat man in „3 Musketiere“ selbst die kleineren Hauptrollen mit „Stars“ aus der Musicalszene besetzt, so baut man in der „West Side Story“ auf ein solides Ensemble, wobei erstaunlich viele Akteure aus der ebenfalls von Helga Wolf inszenierten Produktion der Thuner Seespiele 2008 hier wieder mit von der Partie sind (Lucius Wolter, Sigrid Brandstetter, Gianni Meurer, Martin Kiuntke, Stephan Luethy, Kevin Foster). Ob Helga Wolf die Handlung nun tatsächlich in die Gegenwart verlegt hat, wie dies von anderen Besuchern konstatiert wird, vermag ich nicht zu sagen. Die Tanzveranstaltung, bei der Jets und Sharks aufeinander treffen, würde wohl in der Gegenwart eher in einem Club stattfinden, und Tanzspiele wie in „The Dance at the Gym“ kann ich mir an einem solchen Ort überhaupt nicht vorstellen. Ich empfinde die Inszenierung eher als zeitlos, mit den immerwährenden Themen Liebe, Hass, Jugendkriminalität und Ausländerfeindlichkeit. In der Tecklenburger Produktion werden auch die Songs in Deutscher Sprache aufgeführt (Deutsche Fassung: Frank Thannhäuser/Nico Rabenald); vielen Zuschauern in meinem Umfeld waren aber Stephen Sondheims Gesangstexte wohl so geläufig, dass die übertragenen Texte beinahe gewöhnungsbedürftig erschienen.

Leah Delos Santos (Maria), Lucius Wolter (Tony)

Leah Delos Santos (Maria)

Leah Delos Santos ist ohne Zweifel die herausragende Darstellerin dieser Produktion. Mit bezauberndem, klaren Sopran und südländischem Temperament berührt sie als Auswanderermädchen Maria das Publikum. Ihre Darstellung der verzweifelten Maria, die voll Schmerz und Zorn einen Appell an die zwischenzeitlich zusammengelaufenen Banden gegen die Sinnlosigkeit des Kämpfens und Mordens gerät zum bewegenden Höhepunkt der Aufführung. Ihre Freundin Anita wird von der agilen Sigrid Brandstetter dargestellt, die Marias Bruder Bernardo von den Vorzügen des Lebens in Amerika überzeugen möchte und sowohl in humorvollen als auch in den dramatischen Szenen wie der „Taunting Scene“ (es soll die Verhöhnung Halbwüchsiger zum Ausdruck kommen, in Tecklenburg wird sie als vollzogene Vergewaltigung dargestellt) glaubhaft über die Rampe kommt. Der einstudierte (!) Akzent bei den Gesprächen zwischen Anita und Maria wirkt charmant, fast authentisch. Lucius Wolter spielt den jugendlichen Träumer und Liebenden Tony, der sich inzwischen zu alt für die Jets fühlt und mit „seiner“ Maria in Frieden leben möchte. Dabei dürfte er von seiner „West Side Story“-Erfahrung in Thun profitieren können. Lars Kemter (Riff) und Gianni Meurer (Bernardo) lassen Führungsqualitäten als aggressive Gegenspieler bei den Jets bzw. Sharks erkennen, wobei die Rolle des Bernardo im Vergleich zu Riff eher klein angelegt ist. Während Jana Stelley als Peróns Geliebte mit „Wohin soll ich jetzt geh´n“ im vergangenen Jahr immerhin noch einen ganzen Song nutzen konnte, um auf sich aufmerksam zu machen, hat sie in diesem Jahr als Herumgestoßene Anybodys beinahe eine Schauspielrolle, aus der sie mit Baseballschläger und vorlautem Mundwerk aber das Beste macht. Lediglich die Zeile „Es gibt einen Ort, es gibt einen Ort, es gibt …“ darf sie im zweiten Akt singen. Die sich an „Somewhere“ anschließende Szene „Prozession – Alptraum“ ist in Tecklenburg gestrichen worden.

Jana Stelley (Anybodys)

Leah Delos Santos (Maria), Lucius Wolter (Tony)

Wie ein „West Side Story“-Bühnenbild auf einer Freilichtbühne aussehen kann, davon konnte man sich 2003/2004 bei den Bregenzer Festspielen ein Bild machen, wo 400 Tonnen Stahl und 3.000 m² Glas dem weltberühmten Stück die Kulisse der US-Metropole verliehen. Die gebogene Glasfassade gehörte zu den technischen Highlights, auf die das Projektteam besonders stolz war. Dagegen kann man die Bühne in Tecklenburg eher als bescheiden bezeichnen, wobei der Burghof mit dem Brunnen den festen Rahmen für alle Stücke vorgibt. Mit Wellblech-Imitationen versucht Susanna Buller den Zuschauer in die Strassenschluchten der amerikanischen Metropole zu versetzen. Ich assoziere mit Wellblech allerdings eher Bauwagen oder Notunterkünfte, von daher hätte ich unverkleidete Stahlgerüste vorgezogen. Die Kostüme von Karin Alberti, die seit 14 Jahren das optische Bild im Bereich Kostüme in Tecklenburg prägt, in diesem Jahr aber auch für die Kostüme von „Carmen – Ein deutsches Musical“ bei den Bad Hersfelder Festspielen verantwortlich zeichnet, ermöglichen auch ohne durchgehende Farbteilung eine optische Unterscheidung der beiden Banden, wobei die Kleider der puertoricanischen Damenriege den Farbtupfer liefern.


Gianni Meurer (Bernardo)

Stefan Poslovski (Officer Krupke)

Die untergehende Abendsonne verlieh den Szenen im ersten Akt eine ganz besondere Note, wohingegen im zweiten Akt nach Einbruch der Dunkelheit für Zuschauer auf den Plätzen zum Rand des Auditoriums die von der gegenüberliegenden Seite beleuchteten Darsteller im Dunkeln standen. Dies liegt in der Breite der Bühne begründet und könnte nur durch zusätzliche, mittig angeordnete Scheinwerfer behoben werden. Zusammenfassend stellt die Tecklenburger „West Side Story“ für mich solide gemachtes Open-Air-Theater dar, das parallel gezeigte Musical „3 Musketiere“ kann eindeutig stärker überzeugen.