Bad Hersfelder Festspiele: „Carmen – Ein deutsches Musical“

„Carmen – Ein deutsches Musical“ – nach der Novelle von Prosper Mérimée und der Oper von George Bizet; Musik: Wolfgang Schmidtke; Buch und Songtexte: Judith Kuckart; Regie: Nico Rabenald; Choreografie: Wolf Bader, Gaines Hall; Bühne: Roy Spahn; Kostüme: Karin Alberti; Musikalischer Leiter: Christoph Wohlleben. Darsteller: u.a. Anna Montanaro (Carmen), Christian Alexander Müller (Jo), Kristin Hölck (Marie), Maaike Schuurmans (Katie), Paul Kribbe (Karlemann), Gaines Hall (Johnnie B. Ray). Uraufführung: 16. Juni 2010, Stiftsruine, Bad Hersfeld.



„Carmen – Ein deutsches Musical“


Open-Air-Produktion der Bad Hersfelder Festspiele


Stiftsruine Bad Hersfeld

Die Bad Hersfelder Festspiele erleben in diesem Jahr ihre 60. Spielzeit. Sie wurden 1951 nach dem Vorbild der Salzburger Mysterienspiele ins Leben gerufen, und finden seither jedes Jahr von Mitte Juni bis Anfang August auf der Bühne in der Stiftsruine statt. Anfänglich war es üblich, dass man nach der Aufführung die Ruine andächtig und ohne Applaus verließ. Erst ab 1966 nahm man von dieser Gepflogenheit Abstand. Bis heute ist das Ambiente in der Stiftsruine eher „gediegen“. Die gepolsterte Bestuhlung bietet Platz für 1636 Besucher; der Zuschauerraum im Langhaus kann seit 1968 in der Festspielsaison mit einem 1400 m² großen „Regenschirm“ überdacht werden. 1981 stand mit „Der Mann von La Mancha“ erstmals ein Musical auf dem Spielplan der Bad Hersfelder Festspiele. Zwischenzeitlich wollte man das Genre Musical wieder vom Spielplan „verbannen“, was sich aber als Fehler erwies und bereits im darauf folgenden Jahr korrigiert wurde. In der laufenden Spielzeit werden mit der Wiederaufnahme der „West Side Story“ und der Uraufführung von „Carmen – Ein deutsches Musical“ sogar zwei Musicals in der Stiftsruine gespielt.

Stiftsruine Bad Hersfeld (außerhalb der Festspielzeit)

Bereits 2006 hatte Kim Duddy im Rahmen des Musicalsommers Amstetten mit „Carmen Cubana – A Latin Pop Opera“ eine Musical-Version des Stoffes vorgelegt, die nur lose auf der Novelle von Prosper Mérimée und der Oper von George Bizet basiert. Mit „Carmen – Ein deutsches Musical“ von Judith Kuckart verhält es sich ganz ähnlich: Der Schauplatz der Geschichte wurde aus Andalusien nach Westdeutschland im Jahre 1948 und 1955 verlegt. Aus Don José wurde Jo, ein Sohn aus gutem Haus und angehender Beamter, und aus dem Bauernmädchen Micaëla wurde Marie.

In Rückblenden lässt Marie (Alte Marie: Franziska Weber) ihr Leben Revue passieren. Sie gehört im Nackriegsdeutschland im Jahr 1948 zu den Heimatlosen, den so genannten „Displaced Persons“, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Der Schwarzmarkthandel hat Konjunktur, Banden beherrschen die Szene. Für das verliebte Paar Jo (Christian Alexander Müller) und Marie (Kristin Hölck) scheint die Welt jedoch in Ordnung, bis Carmen (Anna Montanaro) in ihr Leben tritt, die allen Männern den Kopf verdreht. Auch Jo verfällt ihr und verlässt Marie. Sieben Jahre später haben beinahe alle Beteiligten ihren Platz gefunden: Marie eröffnet ihr eigenes Hut-Geschäft, Jo ist noch mit Carmen zusammen, und Bandenanführer Karlemann (Paul Kribbe) hat zusammen mit Katie (Maaike Schuurmans) eine Bar eröffnet. Als Carmen jedoch damit droht, Jo zu verlassen, endet die Geschichte tragisch.

Plakat zur Produktion „Carmen – Ein deutsches Musical“,
Quelle: Bad Hersfelder Festspiele


Anna Montanaro kehrt als Carmen, die undurchsichtige Femme fatal, auf die Bühne der Stiftsruine zurück. Hier verkörperte sie bereits erfolgreich neben Yngve Gasoy Romdal als Jesus von 2002 bis 2004 in „Jesus Christ Superstar“ die Rolle der Maria Magdalena, wofür ihr 2002 der Hersfeld-Preis verliehen wurde. In ihrem ersten Engagement nach der Babypause überzeugt sie durch ihre Bühnenpräsenz und ihr facettenreiches Spiel. Christian Alexander Müller, der jüngste Darsteller des Phantoms in Andrew Llyod Webbers „Phamtom der Oper“ im Essener Colossum Theater, gab 2009 bei den Bad Hersfelder Festspielen in der „West Side Story“ als Tony sein Stiftsruinen-Debut. Neben der Rolle des Jo ist er auch in der Wiederaufnahme der „West Side Story“ zu erleben. Auch in „Carmen – Ein deutsches Musical“ überzeugt er mit grandioser Stimme. Kristin Hölck steht in der Rolle der Marie erstmals auf der Bühne der Stiftsruine, für das „präzise Porträt einer Frau, die vom Leben und von der Liebe betrogen wird“, wurde ihr der Hersfeld-Preis 2010 verliehen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Maaike Schuurmans ist in Bad Hersfeld ebenfalls keine Unbekannte. 2008 spielte sie die Rolle der Prostituierten Lucy Harris in „Jekyll & Hyde“ und wurde für ihre Darstellung mit dem Hersfeld-Preis ausgezeichnet. Dieses Jahr spielt sie neben der Rolle der Katie auch die Anita in der „West Side Story“. Sie bildet zusammen mit Paul Kribbe das dominierende Paar der „Displaced Persons“, und fällt durch ihre temperamentvolle Ausstrahlung auf. Paul Kribbe zeigt sich als vielseitiger Darsteller auf dem Weg vom Bandenanführer zum Barbesitzer. Gaines Hall spielt die Rolle des US-Rockstars Johnnie B. Ray, das Pendant des Toreros Escamillo. Mit seiner Stepptanz-Einlage kann er sich, totz des kurzen Auftritts, bleibend in die Erinnerung der Zuschauer tanzen.

Das aus schwarz-rot-goldenen Treppenstufen mit einem überdimensionalen Eichenlaubkranz bestehende Bühnenbild (Roy Spahn) wird zur zeitlichen Einordnung jeweils durch ein zerstörtes Hakenkreuz, eine Deutsche Mark oder eine amerikanische Flagge ergänzt. Wenige Requisiten reichen aus, um den jeweiligen Ort der Handlung anzudeuten. Wolfgang Schmidtkes Musik orientiert sich an osteuropäischer Folklore, Jazz und Rock ´n´ Roll, Swing, der Unterhaltungsmusik der Nachkriegszeit und dem Big Band-Sound. Aber auch bekannte Elemente aus Bizets Oper, das Leitmotiv der Habañera („L´amour est un oiseau rebelle“), das Torerolied („Toréador, en garde“) und die Seguidilla („Près des remparts de Séville“) wurden umgesetzt. Christoph Wohlleben und das große Orchester sorgen für die souveräne Umsetzung der Partitur.

„Carmen – Ein deutsches Musical“ ist Wolfgang Schmidtkes erste Musical-Komposition, und auch für Autorin Judith Kuckart ist es das erste Musiktheaterstück, für das sie Buch und Liedtexte schrieb. Indendant Holk Freytag hatte das Stück als Ur-Aufführung für die Bad Hersfelder Festspiele in Auftrag gegeben. Die Musik der Konzert-Saxophonisten gefällt dann besonders, wenn sie Fahrt aufnimmt und in Richtung Big Band-Sound geht. Das Buch fokussiert zu wenig auf die tragische Dreiecksgeschichte, will gleichzeitig Geschichtsunterricht geben und die Geschichte der „Displaced Persons“ aufarbeiten, was nur ansatzweise gelingt. „Carmen – Ein deutsches Musical“ ist in der vorliegenden Form wohl nicht der große Publikumsrenner, der fortan auf allen Bühnen landauf, landab gespielt wird, was sich teilweise auch in den Zuschauerzahlen widerspiegelt. Einen unterhaltsamen Abend bietet es aber auf alle Fälle. Pressemeldungen zufolge hat man für 2011 erneut Helen Schneider verpflichtet, die bereits 1999 bis 2001 unter der Intendanz von Dr. Peter Lotschak die Rolle der Evita im gleichnamigen Musical von Andrew Lloyd Webber verkörpert hat und im kommenden Jahr als Norma Desmond in Webbers „Sunset Boulevard“ zu sehen sein wird.

Leider machte das Wetter bei der von mir besuchten Vorstellung dem Open-Air-Erlebnis einen Strich durch die Rechnung. Wegen angekündigter Schauer war der 1400 m² große „Regenschirm“ von Beginn an über die Stiftsruine gespannt, und im Laufe der Vorstellung fühlte ich mich an einen früheren Besuch bei den Bad Hersfelder Festspielen erinnert, als Janina Goy passend zum einsetzenden Regen die Zeilen „Regen fällt, die Straße fließt wie Silber“ aus „Nur für mich“ („Les Misérables“) intonierte. Die 140-minütige Vorstellung selbst war jedoch nicht beeinträchtigt – zumindest nicht für die Zuschauer, die unter dem „Regenschirm“ sitzen. Die Akteure, die dabei im Regen stehen, werden dies möglicherweise ein klein wenig anders sehen. „Carmen – Ein deutsches Musical“ wird noch bis zum 3. August 2010 auf der Bühne der Stiftsruine Bad Hersfeld gezeigt.

Kommentare

Detlef hat gesagt…
Etwa 28.000 Zuschauer haben sich Presseberichten zufolge „Carmen – Ein deutsches Musical“ angesehen, die Wiederaufnahme der "West Side Story" konnte insgesamt knapp 16.000 Zuschauer verzeichnen. Damit sind die Zuschauerzahlen hinter den Erwartungen zurückgeblieben, so die Bilanz der Bad Hersfelder Festspiele 2010.
Detlef hat gesagt…
Sunset Boulevard

Inzwischen haben die Bad Hersfelder Festspiele weitere Darsteller für „Sunset Boulevard“ bekanntgegeben. Ab dem 21. Juni 2011 werden

• Helen Schneider als Norma Desmond,
• Wietske van Tongeren als Betty Schaefer,
• Helmut Baumann als Max von Mayerling,
• Suzana Novosel und Sabine Ruflair als Harem Girls,
• Stefanie Köhm als Ärztin,
• Marthe Römer als Psychaterin,
• Stefanie Köhm als Ärztin sowie
• Amélie Dobler als Mary

unter der Regie von Gil Mehmert auf der Bühne in der Stiftsruine stehen. Melissa King übernimmt die Choreografie, die Musikalische Leitung hat Christoph Wohlleben.